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Substanzen beide Formen auf. Als typisches Beispiel für Tautomerie kann man den Azetessigester ansehen, der zu so vielen Umwandlungs-, Abbau- und Aufbaureaktionen verwendet worden ist. Knorr gelang es 1911 die Enolform des Azetessigesters von der Ketoform zu trennen. Das Verdienst von A. Michael aber ist es, 1888 die Ansicht ausgesprochen zu haben, daß in allen Fällen, wo ein sauerstoffhaltiger organischer Bestandteil sich mit einem Metallatom zu einem Salz vereinigt, wahrscheinlich stets der negative Sauerstoff das Metall an sich kettet und nicht der Kohlenstoff. Demgemäß nahm er im Natriumazetessigester und ähnlichen Verbindungen das Natrium an Sauerstoff gebunden an. Bei dem leichten Übergang tautomerer Verbindungen ineinander findet die Verschiebung eines Wasserstoffatoms statt. Solche Wasserstoffverschiebungen sind bei zahlreichen intramolekularen Atomverschiebungen beobachtet worden, die nicht zu tautomeren Substanzen führen, wie z. B. bei den von R. Fittig eingehend untersuchten Verschiebungen der doppelten Bindung bei ungesättigten Säuren. Mit derselben Leichtigkeit findet bei anderen intramolekularen Atomverschiebungen die Wanderung von Alkyl, Aryl und Hydroxyl statt. Um die experimentelle Aufklärung des Reaktionsmechanismus derartiger intramolekularer Atomverschiebungen wie der Benzilsäureverschiebung, der Umlagerung der Säureamide, Säureazide und Ketoxime haben sich Georg Schroeter und Stieglitz, um die Pinakolinbildung Tiffeneau in Paris, P. J. Montagne in Leyden und Hans Meerwein erfolgreich bemüht. Veranlaßt durch die Auffindung einer Gesetzmäßigkeit bei der Bildung freier Phenolkarbonsäurechloride wies R. Anschütz 1904 darauf hin, daß das Ausbleiben von erwarteten Analogiereaktionen durch intramolekulare Nebenbindungen veranlaßt sein könne. Er ging dabei von dem Grundgedanken aus, daß in der kleinen Welt des Moleküls jedes Atom an jedes andere darin enthaltene Atom gebunden sei. Aber diese Bindungen sind von sehr verschiedener Stärke. In unseren üblichen Strukturformeln kommen nur die Hauptbindungen zur Anschauung, die Bindungen erster Ordnung, die zur Erklärung der meisten Reaktionen genügen. Daß aber Nebenbindungen, Bindungen niederer Ordnung von nicht zu vernachlässigender Stärke vorhanden sind, zeigt das Ausbleiben von zu erwartenden Analogiereaktionen, sowie die leichte Abspaltung und schwierige Anlagerung einfacher Moleküle, hauptsächlich anorganischer Natur. Ferner wird das Verständnis intramolekularer Atomverschiebungen durch die Annahme von Nebenbindungen erleichtert. Aus diesen Darlegungen geht hervor, wie sehr der Begriff der Wertigkeit seine ursprüngliche Starrheit hat verlieren müssen. Die Chemiker dürfen sich in vielen Fällen nicht mehr mit der Aufstellung einer nur die Hauptbindungen ausdrückenden Strukturformel begnügen, sondern sie müssen die Affinitätsverteilung sämtlicher eine Verbindung zusammensetzender Atome in Betracht ziehen, wenn sie eine dem Gesamtverhalten entsprechende Formel aufstellen wollen.

Äußere Bedingungen wissenschaftlicher chemischer Arbeit in Deutschland.

Untersuchen wir die äußeren Bedingungen für die wissenschaftliche chemische Arbeit in Deutschland in bezug auf die Fachliteratur und die wissenschaftlichen Forschungsstätten, so sind auch in dieser Hinsicht die erfreulichsten Fortschritte festzustellen. Früher als bei anderen Nationen

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1318. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/189&oldid=- (Version vom 20.8.2021)