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zugunsten der letzteren Annahme, der körnigen Struktur der Materie, entschieden worden. Dieser Sieg der Atomistik ist auch für die physikalische Chemie bedeutungsvoll. Denn wie die Chemie im ganzen ihre gewaltige Entwicklung zu einem guten Teil dem konsequenten Gebrauch und Ausbau der Atom- und Molekulartheorie, ihres ständigen Rüstzeuges, zuschreiben darf, so erwuchsen auch der physikalischen Chemie ihre Erfolge, ebensosehr wie aus dem hypothesenfreien Boden der Thermodynamik, aus Überlegungen molekulartheoretischer Art. Aber die immerhin hypothetische Grundlage dieser letzteren Schlußweise erweckte bei Manchem Bedenken und drückte den Wert der Ergebnisse. Jetzt, nachdem die reale Existenz der Molekeln fast zur Tatsache geworden, kann neben die thermodynamische Betrachtung die kinetische gleichwertig hintreten, eine um so mehr zu begrüßende Wendung, als der Kinetik manche Gebiete – es sei erinnert an die in der Zeit verlaufenden chemischen Vorgänge – offenstehen, die der reinen Thermodynamik verschlossen sind.

Aggregatzustände.

Die gebräuchliche scharfe Gruppierung der Stoffe in feste, flüssige, gasförmige hat gewisse Einschränkungen erfahren müssen. Schon früher hatten die Andrewsschen Versuche (1869) über die kritischen Erscheinungen die Grenzen zwischen gasförmigen und flüssigen Körpern verwischt, und van der Waals konnte (1881) die „Kontinuität“ des gasförmigen und flüssigen Zustandes in bewundernswerter Weise theoretisch behandeln. Neuerdings schlugen dann mannigfache Erfahrungstatsachen weiter eine Brücke vom flüssigen zum festen Aggregatzustande insofern, daß sie die amorphen, also nicht kristallisierten festen Körper als unterkühlte Flüssigkeiten von sehr großer innerer Reibung ansehen ließen (Tammann 1903). Und endlich scheint es, als ob den in der Abteilung „fest“ dann allein noch übrigen Kristallen ihr bedeutsamstes spezifisches Charakteristikum, die optische Anisotropie, auch nicht mehr ausschließlich vorbehalten bleiben sollte, seitdem auch „flüssige Kristalle“ gefunden wurden. Diese optisch anisotropen Flüssigkeiten, deren Verhältnisse hauptsächlich durch O. Lehmann, Schenk, Vorlaender, Bose studiert wurden, erregten berechtigte Aufmerksamkeit, wenngleich manche ihrer Eigentümlichkeiten trotz vieler Bemühungen einer einwandfreien Deutung bis jetzt entbehren.

Besondere Zustände des Stoffes.

Einer besonderen Aufmerksamkeit erfreute sich das Studium des merkwürdigen Stoffzustandes, den Graham in seinen grundlegenden Untersuchungen (1862) als Kolloidzustand bezeichnete. Sehr viele Stoffe vermögen in Lösungen diesen Zustand anzunehmen. Im Gegensatz zu den typischen klaren Lösungen sind solche „kolloidale Lösungen“ mehr oder weniger trüb, und der gelöste Stoff kann durch verschiedene Mittel, durch Zusätze, Temperaturerhöhung, Einwirkung des elektrischen Stromes zur Ausscheidung gebracht werden. Die Untersuchungen von Siedentopf und von Zsigmondy (1903) lieferten den Beweis dafür, daß in solchen Lösungen die Materie in sehr feiner Verteilung sich befindet, einer Verteilung, die mittels des Ultramikroskops direkt beobachtet und bis zu einem gewissen Grade gemessen werden konnte. Die Dimensionen der Teilchen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/196&oldid=- (Version vom 20.8.2021)