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Eucken und Münsterberg beigetragen haben. Den Philosophen wurde die Erfüllung dieser Aufgaben um so leichter, als sie durch die Ethik und Ästhetik, durch die Rechts- und Religionsphilosophie, durch die Sprachphilosophie und die Philosophie der Geschichte zahlreiche und alte Beziehungen zu den Geisteswissenschaften und ihren Problemen besaßen. Vor allem mußte es bei den Vertretern dieser Disziplinen großen Anklang finden, daß die Eigenart und Selbständigkeit ihres Verfahrens anerkannt und mit dem Vorurteil aufgeräumt wurde, als seien die Mathematik und die mathematische Naturwissenschaft die schlechthin vorbildlichen Wissenschaften und die Geisteswissenschaften erst in den Anfängen einer Entwickelung begriffen, die jene bereits zurückgelegt hätten.

Spezialarbeiten.

Bei all diesen Bemühungen der Philosophie, es den Einzelwissenschaften gleich und genug zu tun, hat sich auch der Geist des Verfahrens und Wesens der letzteren auf sie herabgesenkt. Besondere Gegenstände und Methoden wie die Einzelwissenschaften zu haben, ein eigenes Feld wie sie zu bebauen, von ihrer Gunst und Richtung dabei unabhängig zu sein – das war ein Hauptziel in dem großen Regenerationsprozeß der Philosophie geworden. Die Einzelwissenschaften gedeihen vor allem durch Einzelforschung, nicht durch Lehrbücher und Kompendien, die das erworbene Wissen bloß zusammenfassen. So ist auch die Philosophie diesem Beispiel gefolgt und hat sich auf allen Gebieten in Spezialarbeiten betätigt. Systemlosigkeit war für Hegel ein Zeichen der Unwissenschaftlichkeit gewesen. Jetzt schienen die Systeme ganz außer Kurs geraten zu sein. Die Wenigen, die es damit versuchten, fanden nicht sowohl mit ihrem System, als vielmehr mit einzelnen darin ausgebildeten Lehren Beachtung und Anerkennung. Untersuchungen über das negative Urteil, über die ästhetische Bedeutung des Rahmens, über das Verhältnis des Ganzen zu den Teilen, über die Möglichkeit eines psychischen Maßes u. dergl. waren an der Tagesordnung. Damit wuchs das Bedürfnis nach Zeitschriften, den natürlichen Sammelstätten für solche Arbeiten. Wir haben in Deutschland allein gegenwärtig 5 Zeitschriften, die systematisch-philosophische Abhandlungen aufnehmen, dazu mehrere psychologische und eine ästhetische nebst einer ganzen Anzahl von einzelnen Philosophen herausgegebener Sammlungen von Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, sowie zur Psychologie. Man hat trotzdem den Eindruck, daß die Zahl dieser Periodika nicht ausreicht, und daß wir bald besondere Organe für Logik, Erkenntnistheorie, Phänomenologie, Ethik usw. erhalten werden und erhalten müssen.

Soziologie.

Das starke Durchflochtensein der Philosophie der Gegenwart mit einzelwissenschaftlichen Interessen und Aufgaben hat sie auch befähigt, einige ihrer Disziplinen als Einzelwissenschaften auszubilden und zu betreiben. Seit Comte eine Soziologie nach dem Muster der Mechanik als Lehre von der Statik und Dynamik der menschlichen Gesellschaft begründet hatte, sind die Bemühungen um eine solche Wissenschaft nicht erlahmt. Doch sind die Biologie, die Psychologie und die einzelnen Sozialwissenschaften, wie die Politik und die Nationalökonomie, dabei an die Stelle der Mechanik getreten. Namentlich hat sich eine Sozial- und Völkerpsychologie entwickelt,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/23&oldid=- (Version vom 9.3.2019)