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von den Voraussetzungen einer bestimmten Weltanschauung erstrebt. Selbst die Metaphysik wird heute, nachdem besonders Wundt in seinem großangelegten System der Philosophie dafür eingetreten ist, im Sinne der empirischen Einzelwissenschaften und als deren Vollendung und Krone aufgefaßt und behandelt. Es bleibt dabei freilich nicht aus, daß sie je nach der Betonung der einzelwissenschaftlichen Grundlage einen verschiedenen Charakter annimmt. Materialistisch oder monistisch pflegt sie auszufallen, wenn die Naturwissenschaften ihre einzige oder wichtigste Stütze bilden, spiritualistisch wird ihre Tendenz, wenn Psychologie und Geisteswissenschaften ihre Durchführung in erster Linie bedingen. Doch gibt es daneben auch heute noch Philosophen, die eine Weltanschauungslehre in wissenschaftlicher Form nicht für möglich halten und es den Einzelnen überlassen, dahin zielende Bedürfnisse nach eigenem Geschmack und auf eigene Hand zu befriedigen.

Relativismus.

Die Ansprüche der absoluten Philosophie werden bei dieser einzelwissenschaftlichen Wendung vielfach aufgegeben, und es droht ein Relativismus Platz zu greifen, der alles auf Erfolge hin wertet, die erzielt werden sollen, oder die alte sophistische Weisheit von dem Menschen als Maß aller Dinge erneuert. Pragmatismus und Humanismus nennt sich diese besonders in England und den Vereinigten Staaten groß gewordene Richtung. Letzte Werte und Wahrheiten erkennt sie nicht an. Unmittelbare Einsichten, wie sie z. B. den Axiomen zugeschrieben worden sind, gelten ihr nichts. Oft, aber vergeblich, ist darauf hingewiesen worden, daß dieser Relativismus zum Skeptizismus führe und sich selbst aufhebe: zur Kritik einer Lehre bedürfe man des sicheren Maßstabs, zur Behauptung einer Ansicht der zuverlässigen Voraussetzung. Aber als bloße Konstatierung einer Tatsache, eben der Relativität aller Wahrheit, ist der Pragmatismus gegen solche dialektischen Einwände geschützt. Es kann da nur noch gefragt werden, ob diese Tatsache besteht und ob die Konstatierung richtig ist. Sicherlich gilt sie für viele Fälle, wie das Verfahren der Einzelwissenschaften zeigt. Man denke nur an die Arbeitshypothesen, an die Aufstellung zweckmäßiger Hilfsannahmen, an die Unbeweisbarkeit der Axiome, an die Willkür der Definitionen und die Abhängigkeit aller spezielleren Sätze von ihnen. Aber irgendein Absolutum, und sei es auch nur das eigene liebe Ich, ist auch für den Relativisten vorhanden, und so pflegt er das Leben und seine Forderungen oder den Menschen und seine Bedürfnisse oder das höchste Ziel eines Übermenschentums stillschweigend oder ausdrücklich als letzten Maßstab aller Wahrheit zu benutzen und anzuerkennen.

Die Tendenz der Vertreter der Einzelwissenschaft ist in der Gegenwart zumeist eine positivistische, d. h. sie treiben eine philosophische Theorie ihrer Wissenschaft und empfinden keine Veranlassung, über deren Ergebnisse hinauszugehen. Dabei gilt es manchen Naturwissenschaftlern als geboten, die Erfahrung in ihrer ursprünglichen, dem Bewußtsein des Forschers gegebenen Form als den Gegenstand der Erkenntnis zu betrachten und dadurch in einen Zwiespalt mit der offenkundigen Intention ihrer Wissenschaft zu geraten. Daneben wird von Begriffen gesprochen, deren wichtigste Grundlage ein denkökonomisches Verfahren bilden soll. Es gibt auch Philosophen,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/25&oldid=- (Version vom 9.3.2019)