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welche sich dieser Auffassung anschließen, die nur noch die Einzelwissenschaft als eigentliche Wissenschaft anerkennen und damit auf alle Sonderaufgaben und -interessen der Philosophie verzichten. Aber die letzten 25 Jahre haben dem Positivismus in dieser Gestalt kaum einen Zuwachs gebracht. Die Richtung auf Absolutes ist erstarkt, die selbständige Energie und Schöpferkraft der Philosophie ist wieder erwacht, und so fehlt es auch nicht an Einzelforschern, die nach dem metaphysischen Lorbeer greifen, die ihre Gegenstände und ihre Erkenntnisse verabsolutieren und zu einer Weltanschauung erweitern und verdichten.

Materialistischer Monismus.

Haeckels Welträtsel sind dafür ein unerfreuliches und bezeichnendes Beispiel. Sein Materialismus oder Monismus ist genau so unklar und philosophisch unorientiert, genau so anspruchsvoll und unvorsichtig wie der seiner Vorgänger Moleschott und Büchner. Von einer Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten oder abweichenden Theorien ist kaum die Rede. Ein Popanz von Dualismus wird aufgerichtet und mit wohlfeilen Kraftausdrücken niedergeworfen. Dieser seichte Dogmatismus hat in wissenschaftlich und philosophisch gebildeten Kreisen Ablehnung und Widerlegung gefunden. Aber er ist von der großen Masse Urteilsloser, die sich dem autoritativen Einfluß ihrer Kirche entzogen hatten, um so lieber als das „Resultat der Wissenschaft“, als die Weltanschauung des Naturforschers begrüßt und angenommen worden. Gewiß ist das kein günstiges Zeichen für die Höhe unserer geistigen Kultur. Aber darum braucht man noch nicht nach der staatlichen oder kirchlichen Polizei zu rufen. Auf diesem Felde sollte der Kampf nur mit geistigen Waffen geführt werden. Die Urteilslosen sind die Sachunverständigen. Belehrungen, nicht Befehle, Aufklärung, nicht Verfolgung, Erziehung zu selbständiger Einsicht, nicht Knechtung, Bestrafung und Drohung sind zu ihrem Besten aufzubieten und anzuwenden.

Materialistische Geschichtsauffassung.

Der materialistischen Naturbetrachtung ist eine materialistische Geschichtsauffassung zur Seite getreten, die namentlich von einer bestimmten politischen Partei, der sozialdemokratischen, anerkannt wird, seit das kommunistische Manifest von Marx und Engels im Jahre 1849 die Grundzüge dafür aufgestellt und das Hauptwerk des erstgenannten eine nähere Ausführung darüber gegeben hatte. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt hiernach den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Die Ideen, die früher, auch noch den Philosophen der französischen Revolution, als die treibenden Kräfte galten, sind hier zu bloßen Reflexen, Begleit- und Folgeerscheinungen eines materiellen Mechanismus geworden. Es liegt auf der Hand, daß auch diese Lehre einen bestimmten Vorgang verabsolutiert, eine zweifellos bestehende Entwicklungsrichtung einseitig zur alleingültigen erhebt. Eine genauere Würdigung der zu deutenden Tatsachen zeigt immer klarer und unwiderleglicher, daß in der sozialen wie in der individuellen Sphäre die Wechselwirkung zwischen geistigen und materiellen Faktoren die Regel ist.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/26&oldid=- (Version vom 14.3.2019)