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Die ausgiebigste Anregung zu experimentellen Studien gab die Einführung der kleinkalibrigen Gewehre, der Mantelgeschosse mit ihren verschiedenen Modifikationen und der modernen Artillerieprojektile. Neben den Untersuchungen von Reger, Kocher, Paul v. Bruns, Riedinger, Feßler und anderen sind hier vor allem die umfassenden, unter der Leitung des jetzigen Generalstabsarztes v. Schjerning ausgeführten Schießversuche der Medizinalabteilung des preußischen Kriegsministeriums zu nennen, welche, ein Muster deutschen Fleißes und gewissenhafter Forschung, der gesamten Kriegschirurgie der Neuzeit die wissenschaftliche Grundlage geschaffen haben.

Das Jahr 1896 hat dann durch Konrad Röntgens große Entdeckung auch dem Studium der Kriegsverletzungen eine unerwartete Hilfe gebracht, und namentlich der Lehre von der Schußfraktur ist durch das Röntgenverfahren eine auf anderem Wege nicht erreichbare Förderung zuteil geworden. Die ersten praktischen Erfahrungen vom Kriegsschauplatz hat Küttner im Jahre 1897 während des griechisch-türkischen Krieges auf türkischer Seite zu sammeln Gelegenheit gehabt, seitdem sind in allen Feldzügen der neuesten Zeit die Röntgenstrahlen zur Verwendung gelangt. Sie haben sich als ein hervorragendes kriegschirurgisches Hilfsmittel bewährt, welches außer für die Therapie der Knochenschußbrüche auch für die Beurteilung und Behandlung vieler Verletzungen des zentralen und peripheren Nervensystems, wie für die Feststellung des Sitzes steckengebliebener Geschosse unentbehrlich geworden ist und dank der transportablen Einrichtungen für Kriegszwecke heute selbst in der vorderen Linie Verwendung finden kann.

Wie die Röntgenstrahlen, so sind auch andere technische Errungenschaften der neuesten Zeit mit Erfolg in den Dienst der Kriegschirurgie gestellt worden. Hervorgehoben seien die kinematographischen Studien von Tilmann über die Schädelschüsse und die wiederum im Auftrage der unermüdlichen Medizinalabteilung des Preußischen Kriegsministeriums ausgeführten Untersuchungen von Kranzfelder und Schwinning, welche die Mehrfach-Funkenphotographie für die Darstellung der Geschoßwirkung im menschlichen Körper ausnützten. Gerade diese letztgenannten Experimente zeigen, bis zu welcher Höhe die wissenschaftliche Forschung heute auf einem Gebiete gediehen ist, welches jahrhundertelang dem Vorurteile, dem Aberglauben und der rohen Empirie preisgegeben war.

Anwendung des antiseptischen Prinzips.

Haben alle diese Untersuchungen unsere theoretischen Kenntnisse der Kriegsverwundungen nach jeder Richtung hin entwickelt und vertieft, so sind die großen äußeren Erfolge der Kriegschirurgie vorwiegend dem zweiten erwähnten Faktor zu danken, der rationellen Übertragung des antiseptischen Prinzips auf die Verhältnisse des Krieges. Die Wundbehandlung hat sich den Besonderheiten des Feldes anpassen müssen. Während im Frieden durch die Antisepsis der operativen Therapie immer weitere Gebiete erschlossen wurden, ist die Kriegschirurgie im Gegenteile mit Hilfe der Antisepsis operativ zurückhaltender geworden, sie ist heute konservativ in doppeltem Sinne, denn sie vermag unter unsicheren Verhältnissen jede nicht unmittelbar lebensrettende Operation zu vermeiden, und sie ist konservativ, weil sie erhält, was früher der Verstümmelung anheimfiel. Ein Name verdient hier vor allen anderen genannt zu werden,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/271&oldid=- (Version vom 20.8.2021)