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Die soziale Medizin und soziale Hygiene
Von Geh. Medizinalrat Dr. Th. Rumpf, Ord. Hon.-Professor der Universität Bonn


Völlig neue Aufgaben.

Die soziale Gesetzgebung, welche der Anregung des großen Kaisers Wilhelm I. ihre Entstehung verdankt, aber erst im Jahre 1911 in der Reichsversicherungsordnung und dem Versicherungsgesetz für Angestellte einen vorläufigen Abschluß erhielt, stellte die Ärzte vor völlig neue Aufgaben. In die engen Beziehungen zwischen Kranken und Arzt trat der Staat mit seinen Anforderungen und Bestimmungen. Allerdings war das teilweise schon früher der Fall. Die alte Staatsarzneikunde hatte auch diese Anforderungen umfaßt. Aber seit Jahrzehnten hatte sich diese in die gerichtliche Medizin und die Hygiene als selbständige Fächer aufgelöst, und es blieben fast unberücksichtigt in Forschung und Unterricht einzelne Gebiete der Staatsarzneikunde übrig, welche die ärztliche Tätigkeit im allgemeinen Interesse betrafen. Dazu gehörten die Tätigkeit für Armenverwaltungen, staatliche Behörden, eine kleine Zahl von Krankenkassen, ferner die Aufgaben bei den früher noch mangelhaften Maßnahmen gegen ansteckende Krankheiten und bei Bekämpfung der Nahrungsmittelverfälschung. Durch die soziale Gesetzgebung, weiterhin durch die Gesetze zur Bekämpfung der Seuchen und ansteckenden Erkrankungen und alle anschließenden dem Allgemeinwohl gewidmeten Gesetze, Verordnungen und Bestrebungen erfuhren diese ärztlichen Aufgaben eine früher völlig ungeahnte Erweiterung, und es entstand in den letzten Jahrzehnten ein völlig neuer Zweig der Heilkunde, die soziale Medizin.

Vielfach wird in neuerer Zeit für einen Zweig der sozialen Medizin, die soziale Hygiene, eine Sonderstellung erstrebt. Beide miteinander verknüpfte und ineinander übergehende Gebiete betreffen die gesundheitlichen, rechtlichen und volkswirtschaftlichen Beziehungen, welche aus der ärztlichen Tätigkeit und wissenschaftlich-ärztlichen Forschung gegenüber dem Einzelnen als solchem oder in der Berufstätigkeit des Arztes für die Allgemeinheit erwachsen. Während man unter der sozialen Medizin im engeren Sinn vorwiegend die Beziehungen der praktischen ärztlichen Tätigkeit in der Behandlung des Einzelfalls zur Allgemeinheit versteht, beschäftigt sich die soziale Hygiene mehr mit den allgemein ärztlichen, wissenschaftlichen und Verwaltungsaufgaben, welche aus der Erkennung und Behandlung des einzelnen Krankheitsfalls oder einzelner Gruppen in Beziehung auf Arbeite und Lebensbedingungen für die Gemeinschaft des Volkes sich ergeben.

Diese beiden Zweige der Heilkunde haben sich erst unter der Regierung Kaiser Wilhelms II. entwickelt. Sie haben ihre Wurzeln in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts,

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/274&oldid=- (Version vom 20.8.2021)