Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 3.pdf/276

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und gesetzgebenden Körperschaften Abhilfe zu schaffen; als aber ihre Petitionen keinen Erfolg hatten, schlossen sie sich zur Selbsthilfe im Leipziger Verband zusammen. Ihre Bestrebungen gingen dahin, daß die Kassenarztstellen nicht mehr nach Willkür des Vorstandes vergeben werden sollten, daß alle Ärzte, welche zur kassenärztlichen Tätigkeit bereit waren, zu dieser zugelassen werden sollten (beschränkte freie Arztwahl), und daß eine Vertragskommission der Ärzte die nötigen Kassenverträge abschließe. Gleichzeitig wurde eine angemessene Honorierung der kassenärztlichen Tätigkeit verlangt, die zum Teil weit unterhalb der gesetzlichen Honorierung für die Einzelleistung an Armenverbände stand. Diese Bestrebungen waren um so mehr gerechtfertigt als durch die Fortschritte in den diagnostischen Methoden und der Behandlung die Anforderungen an die Leistungen jedes gewissenhaften Arztes wesentlich größere geworden waren als in früherer Zeit. Innerhalb kurzer Zeit waren von etwa 33 000 deutschen Ärzten 25 000 im Leipziger Verband vereint.

Kampf mit den Kassenvorständen.

Gegen diese Bestrebungen erhoben die Kassenvorstände teilweise einen Sturm der Entrüstung. Sie fürchteten, daß eine wesentliche Erhöhung der Kassenausgaben durch höhere Ausgaben für Ärzte und Arzneimittel stattfinden werde, daß die alten patriarchalischen Beziehungen des Kassenvorstandes zum Kassenarzt aufhören würden, da die vom Vorstand unabhängigen Ärzte kein intensives Interesse an der Kasse haben könnten, und so die Krankheitssimulation und die ungerechtfertigte Ausnutzung der Kassen stark zunehmen werde. Alle diese Befürchtungen haben sich bei den vom Leipziger Verband vorgeschlagenen Kontrolleinrichtungen teilweise als falsch, teilweise als stark übertrieben herausgestellt, wie es die Ärzte von Anfang an behauptet hatten, und wie es der Rendant der großen Magdeburger Ortskrankentasse Müller an einem großen Zahlenmaterial bewiesen hat. Einzelne Kassenvorstände glaubten allerdings aus der Zusammenstellung ihrer Einnahmen und Ausgaben beweisen zu können, daß eine völlig unerschwingbare Erhöhung der Arzt- und Arzneikosten infolge der freien Arztwahl erfolge, andere verschmähten die Einrichtung der ärztlich empfohlenen Kontrolleinrichtungen, um die Unmöglichkeit des Systems der freien Arztwahl demonstrieren zu können. Allerdings kann die Erhöhung der Kassenausgaben nicht bestritten werden. Aber ein größerer Teil dieser fällt nicht der Versorgung mit ärztlicher Hilfe im alten Sinne zur Last. Einzelne Kassen haben eine Erhöhung des Krankengeldes und eine Ausdehnung der Krankenpflege eintreten lassen, andere haben Rekonvaleszentenhäuser errichtet, deren Betrieb pro Kopf und Tag etwa die doppelten Kosten eines Krankenhausaufenthaltes erfordert, viele Kassen lassen, was nur auf das wärmste begrüßt werden kann, ihren Klienten zahnärztliche Hilfe zuteil werden. Die Kosten für Zahnärzte machten bei der Krankenkasse für kaufmännisches und Bureaupersonal in Düsseldorf im Jahre 1912 18% des ärztlichen Honorars aus, unter welches dieselben, wie der Kassenvorstand auch betont, gerechnet werden. Die vielfach eingeführte ärztliche Hilfe für Familienangehörige der Kassenmitglieder hat die Ausgaben für ärztliche Leistungen um mehr als 60% ansteigen lassen (Bonn). Auch die Kosten für Heildiener, Masseure, Hebammen werden unter den Ausgaben

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1405. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/276&oldid=- (Version vom 20.8.2021)