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bezeichnet), an welcher in Deutschland etwa 2000 Menschen pro Jahr zugrunde gehen, die häufig im besten Mannesalter und auf der Höhe der Arbeitskraft ihrer Familie entrissen werden. Die Verhältnisse bringen es mit, daß besonders solche Menschen, welche erst spät zu heiraten vermögen (Offiziere, Studierende, Beamte, Kaufleute) gefährdet sind. Eine große Anzahl Syphilitiker geht außerdem an frühzeitig eintretenden Erkrankungen des Herzens und des Gefäßsystems zugrunde. Ein noch größerer Schaden erwächst aus Erkrankungen der Nachkommenschaft. Viele Kinder sterben früh, teils an den Folgen der Syphilis, teils an Lebensschwäche. Ein großer Prozentsatz von Kindern syphilitischer Eltern füllt die Idiotenanstalten. Herr Dr. Kellner hat in den Alsterdorfer Anstalten bei Hamburg vor kurzem nachweisen können, daß unter 100 Fällen in 50 Fällen sich Reste von Syphilis durch die Befunde und die Wassermannsche Reaktion nachweisen ließen. Immense Kosten erwachsen dem Staat aus diesen Verheerungen einer Seuche. Dabei muß betont werden, daß die Erkrankung auch durch direkte und indirekte körperliche Berührungen (Küssen, Schlafen in einem Bett, Benutzung gleicher Tücher, Blasinstrumente) häufig übertragen wird. Ärzte, Hebammen, Krankenpfleger und Pflegerinnen werden nicht all zu selten von ihren Patienten, Ammen durch kranke Kinder, Arbeiter von ihren Kameraden angesteckt.

Prostitution und Seuchenkontrolle.

Doch ist im allgemeinen dank der vielen Warnungen und Bestrebungen (ich erinnere an die Bestrebungen der deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der betreffenden Erkrankung) die Zahl der Erkrankungen gesunken. Immerhin kann noch viel nach dieser Richtung geschehen. Bedauerlich ist vor allem, daß die für die Übertragung der Krankheit so gefährlichen Prostituierten in den großen Städten über das Weichbild der Stadt verstreut, in größeren oder meist kleineren Familienwohnungen sich einmieten dürfen. Die Erschwerung der Seuchenkontrolle bringt es mit sich, daß dadurch Übertragungen auch auf die Mitwohner und besonders die Kinder im Hause ermöglicht sind, Übertragungen, die vielfach erst nach Jahren schwere Symptome machen. In dieser Beziehung ist eine Änderung dringend erwünscht. Allerdings bestand für den Arzt früher die Anzeigepflicht in allen Fällen, bei denen nach Ermessen des Arztes von der Verschweigung der Krankheit nachteilige Folgen für die Kranken selbst oder für das Gemeinwesen zu befürchten waren. Diese Bestimmungen sind durch das neue Seuchengesetz aufgehoben, und es ist nur eine Beobachtung, Absonderung und zwangsweise ärztliche Behandlung bei denen gestattet, welche der gewerblichen Prostitution ergeben sind. Viele von diesen entziehen sich aber der ärztlichen Behandlung, suchen Kurpfuscher auf und tragen so zur Verbreitung der Seuche bei. Hier sind neue Gesetze auf Grund der Erfolge bei der Bekämpfung der übrigen Seuchen dringend erforderlich. Es sollte auch bei allen Prostituierten die Anwendung des Salvarsans geboten sein, well eine mehrwöchentliche Behandlung mit diesem Mittel die Krankheit vielfach zur völligen Heilung bringt, jedenfalls aber die Übertragungsfähigkeit in hohem Grade herabsetzt.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1425. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/296&oldid=- (Version vom 20.8.2021)