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an der gleich zu erwähnenden, sich ebenfalls eines intuitiven Verfahrens bedienenden Phänomenologie teilnimmt.

Husserl’s Phänomenologie .

Diese fordert und übt ein ausgezeichneter deutscher Philosoph, der in Göttingen wirkende Husserl. Von einer gründlichen Kritik des Psychologismus, in den er selbst verstrickt war, ausgegangen, hat er zunächst der Logik durch eine virtuos gehandhabte Bedeutungsanalyse die wissenschaftliche Selbständigkeit geben wollen. Aber das an den Bedeutungen erprobte Verfahren ihrer Klärung, der Erfüllung ihrer Intentionen wurde alsbald auf beliebige Phänomene angewandt und erwies sich auch ihnen gegenüber als eine überaus fruchtbare Methode. Alles, was zur unmittelbaren Gegebenheit gebracht werden konnte, ließ sich auf sein Wesen untersuchen und die hinreichende Prüfung des Ergebnisses an dem jederzeit in klarer Vergegenwärtigung erfaßbaren Phänomen vornehmen. Wesensschauung nennt sich diese Intuition. Sie ist streng durchführbar und macht die Philosophie, die sich ihrer bedient, zur strengen Wissenschaft, die sie bisher noch nicht gewesen. Hier ist absolute, restlose Einsicht möglich und damit ein Fundament für alle Erkenntnistheorie zu gewinnen, das sich an Solidität mit der Mathematik messen kann. Auch schon vorher war auf die Tatsachen des Bewußtseins als einen Gegenstand der Erkenntnis, ja selbst der Naturwissenschaft hingewiesen worden. Daß man aber an ihnen eine besondere Aufgabe zu lösen, ihr Wesen zunächst einmal für sich festzustellen habe, war jenen Immanenzphilosophen nicht eingefallen. Das Selbstverständliche wird – so zeigte sich auch hier – am spätesten zum Problem.

Ein unabsehliches Arbeitsfeld tut sich hier in der Tat auf. Die Gesamtheit unserer Erfahrung, unserer Bewußtseinswirklichkeit, die wir durch eigenes Erleben so gut zu kennen glauben, und für die wir viele Namen seit langer Zeit zur Verfügung haben, wird zum aufklärungsbedürftigen und einer vollen und strengen Einsicht in sein Wesen zugänglichen Gegenstande. Unser Wollen und Fühlen, unsere Empfindungen und Vorstellungen, die vorgefundene Innenwelt in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit und daneben die farbige, tönende, über weite Räume verteilte Außenwelt des naiven Bewußtseins kann der genauesten Analyse unterworfen werden. Nicht bloß zum Zweck der Verständigung über die Erfahrung zwischen verschiedenen Subjekten, nicht bloß als Ausgangspunkt einer auf reale Objekte gerichteten Beobachtung und Forschung, sondern als Selbstzweck stellt sich diese Phänomenologie auf den Plan. Sie darf beanspruchen überall beachtet, berücksichtigt und betrieben zu werden, wo Gegebenes, wo reine Erfahrung eine Rolle spielt. Schon R. Avenarius hatte eine solche Richtung einzuschlagen versucht. Aber indem er die psychophysischen Beziehungen zu einem realen System, dem Gehirn, zur Hauptsache für seine reine Erfahrung machte, entglitt ihm die unmittelbare Analyse des Gegebenen selbst. Hier dagegen ist die Erfahrung ohne Voraussetzung einer solchen Theorie zum letzten und eigentlichen Gegenstand der phänomenologischen Erkenntnis geworden. Unbefangene Einstellung auf den bloßen Gehalt der vorgefundenen Wirklichkeit, das Gerichtetsein auf einen Bestandteil desselben, unabhängig von seinem Verflochtensein in ein Reich realer Beziehungen, von seiner Bedeutung für anderes, von idealen Bestimmungen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/30&oldid=- (Version vom 11.5.2019)