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Wandlung läßt sich insofern verzeichnen, als nach Abschluß der Verfassungskämpfe die Aufmerksamkeit sich auch der Verwaltungsgeschichte zuwandte. Es wuchs, wiederum als Folge praktischer Erfahrung und historischer Forschung, die Einsicht, daß ein Staat auch bei mangelhafter Verfassung durch gute Verwaltung Treffliches zu leisten vermag. Doch war die Wandlung der Situation noch nicht erheblich.

Neue Entwicklung seit 1878.

Ein neuer Abschnitt in der Entwicklung der deutschen Historiographie läßt sich dagegen von den Jahren 1878 und 1879 datieren. Diese neue Zeit hat ihr Kennzeichen zunächst in einem vorher nicht gekannten Ausbau der Kulturgeschichte, besonders der Wirtschaftsgeschichte. Der Wendepunkt in der Entwicklung der Historiographie fällt zusammen mit einem Wendepunkt in der inneren politischen Geschichte Deutschlands.

Damals nahm die zweite Glanzzeit der Bismarckschen Politik ihren Anfang. „Unter Rückkehr zu den autoritären Grundlagen des Staates wurden“ – so äußert sich ein neuerer Historiker – „die konservativen Kräfte in Wirtschaft und Gesellschaft bewußt und erfolgreich in die Höhe gehoben.“ Der Kampf galt vor allem dem manchesterlichen Liberalismus, dessen Abbruch sich jetzt vollzog; ihm im umfassendsten Sinn. Dessen Ideale waren Handelsfreiheit, Gewerbefreiheit, Wucherfreiheit; in einigen Gruppen des Liberalismus oder der Demokratie steigerte man den Individualismus bis zu internationalen Tendenzen. Demgegenüber betonte man jetzt, daß es notwendig sei, der Bewegungsfreiheit des Individuums im Interesse der Allgemeinheit Schranken zu ziehen. Man forderte Ausdehnung der Staatstätigkeit, Stärkung der Staatsgewalt, nationalen Zusammenschluß. Die nationale Idee wurde energischer und tiefer erfaßt. Diese Gedanken und Bestrebungen, wie sie zuerst in den Jahren 1878 und 1879 hervortraten, haben in den folgenden Jahrzehnten eine weitere Entfaltung erfahren, sind unter der Regierung unseres Kaisers im einzelnen praktisch verwirklicht und fortgebildet worden.

Im Kreise der deutschen Historiker fand das neue System bereitwilliges Verständnis. Die deutsche Geschichtsforschung hatte ihm geradezu vorgearbeitet. Die angeführten Worte Sybels deuten ja in wichtigen Punkten auf das hin, was jetzt Programm wurde. Wenn Bismarck für seine neue Politik nicht bei allen Historikern Anklang fand, so hat doch von den verschiedenen Disziplinen die Geschichtswissenschaft ihm wohl die meisten Anhänger gestellt. C. W. Nitzsch, der im Jahre 1880 starb, hatte noch die Wendung zu einer konservativeren Politik als die Morgenröte einer besseren Zeit begrüßt. Manche Historiker, wie H. v. Treitschke, verließen jetzt die liberale Parteiorganisation, die sich zu den neuen Gedanken nicht bekennen wollte. Andere blieben in ihr, haben dann aber zur inneren Umformung ihrer Partei beigetragen. Ranke äußerte sich in einer Ansprache an seinem 90. Geburtstag (21. Dezember 1885): „In den Ereignissen, die wir erlebt haben, läßt sich vor allem eine Niederlage der revolutionären Kräfte erkennen, welche die regelmäßige Fortentwicklung der Weltgeschichte unmöglich machen. Hätten diese den Platz behauptet, so würde von einer Fortbildung der historischen Kräfte, selbst von einer unparteiischen Anschauung derselben nicht die Rede gewesen, eine Weltgeschichte im

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/38&oldid=- (Version vom 31.7.2018)