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objektiven Sinne unmöglich geworden sein. Ich, meines geringen Orts, würde nicht daran gedacht haben, eine Weltgeschichte zu verfassen, wenn nicht für mich im Allgemeinen das Problem der beiden großen Weltgewalten nach langen Kämpfen und Abwandlungen wäre entschieden gewesen, so daß es einen unparteiischen Rückblick auf die früheren Jahrhunderte gestattete.“ Ranke warf hiermit einen Rückblick auf das ganze Jahrhundert seit der französischen Revolution im Auf- und Abwogen seiner Tendenzen; aber auch die Wandlung der jüngsten Vergangenheit hatte er dabei im Auge; wir wissen aus seinen Aufzeichnungen, daß er das „große politische Ereignis“ der Abwendung vom Liberalismus begrüßte.

Innerhalb der Nationalökonomie war es wiederum vornehmlich die historische Richtung, welche dem neuen System starke Sympathien zuwandte.

Wenn nun die Historiker von dem guten Recht des Staats so lebhaft überzeugt waren, so konnten die jetzt sich reicher entwickelnden Studien auf dem Gebiet der Kulturgeschichte unmöglich in einem dem Walten der staatlichen Mächte abgeneigten Geist gehalten sein.

Wandlung in der Auffassung der Kulturgeschichte.

Es trat eine bezeichnende Wandlung in der Auffassung der Kulturgeschichte ein. Als in der Periode der Aufklärung, im Zeitalter Voltaires die kulturgeschichtliche Betrachtung begründet wurde, glaubte man in ihrem Namen auf die „Haupt- und Staatsaktionen“, auf die Kriege der Staaten und ihre diplomatischen Verhandlungen, verächtlich herabsehen zu müssen. Man wollte die Werke des Friedens, der Zivilisation, der Kultur schildern und lebte in der Vorstellung, daß sie ihren Weg getrennt von Kriegstaten und Verhandlungen der Staatsmänner gingen. Man feierte die Verdienste der mittelalterlichen Städte und meinte, daß sie kampflos zu ihrem Kulturbesitz gelangt seien. Seit dem Aufkommen der Romantik vermochte sich eine so einseitige Auffassung nicht mehr ganz zu behaupten: die romantischen Historiker konnten bei ihrer Wertschätzung der überkommenen staatlichen Mächte und der Liebe, mit der sie alle geschichtlichen Erscheinungen umfaßten, jener Trennung von Kultur und Staat nicht beipflichten. Es ist bezeichnend, daß derjenige romantische Historiker, der mit seinem Blick die weitesten kulturgeschichtlichen Gebiete umspannt hat, Heinrich Leo, das Wort vom „frischen fröhlichen Krieg“ geprägt hat. Indessen hielt sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein gewisser Gegensatz zwischen Kultur- und politischen Historikern. In den ersten Jahren der Regierung unseres Kaisers wurde ein interessanter Streit über dies Verhältnis zwischen E. Gothein und D. Schäfer ausgefochten. Beide sind so gründliche Kenner der Geschichte, daß die Differenz zwischen ihnen nicht umfassend sein konnte; dennoch ist es lehrreich zu beobachten, wie von Gothein, der das Recht der Kulturgeschichte verteidigt, der Staat und sein Wirken um eine Nuance geringer eingeschätzt werden wie von Schäfer, der das Recht der politischen Geschichte vertritt. Schäfer blieben auch Angriffe von der demokratischen Presse nicht erspart. In der Folge ist die unpolitische Behandlung der Kulturgeschichte durchaus überwunden worden. Eindringende historische Untersuchungen wie die praktischen Erfahrungen der Gegenwart haben gelehrt, wie nahe Staat und Kultur zusammenhängen. Es ist wiederum charakteristisch, daß derjenige Historiker der Gegenwart, der in seinen Arbeiten die mannigfaltigsten

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/39&oldid=- (Version vom 31.7.2018)