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und dort stellt sie sich nur auf ihr eigenes, frei schwebendes, aus eigenen Mitteln schöpfendes Vermögen. Auf der einen Seite sehen wir Dichter aus dem Born heiterer Lebensfreude trinken, aus den Tiefen deutschen Gemütes voll Sinnigkeit und Glaubensinnigkeit schürfen, auf der anderen werden unsere Sinne und Nerven gepeitscht, wie von Straußscher Musik oder Reinhardts Bühnenkunst oder dem Hexensabbat der Kinos. Talente erblühten allüberall in den verschiedensten Formen und Abstufungen der Dichtung, aber das erlösende, bahnweisende Genie fehlt ebenso wie auch sonst die harmonisch geschlossene, geistige Erfassung der Weltzusammenhänge. Brennende Sehnsucht durchzieht die Fülle all der rastlosen Arbeit und die Fülle spielerischer Träume, in denen dekadentes, sich selbst genießendes Ästhetentum sich wiegt. Gewannen Wissenschaft und Technik immer mehr die Herrschaft über Raum und Zeit und Naturkräfte, so eroberte die Poesie doch nicht minder neue Stoff-Gebiete. Die Welt der Großstadt in allen ihren Licht- und Schattenseiten, die Welt der Industrie, der Maschine, aber auch der Natur in ihren geheimsten Licht- und Farbenreizen und in der winterlichen Pracht ihrer Berge, die Seelenwelt des Kindes, die feinsten Abstufungen des Bewußten und Unbewußten, ja des Unter- und Überbewußten, die dunklen Trieblabyrinthe, eine Unzahl von Problemen sozialer und ethischer Art. Wer möchte bei der Fülle anstürmender Fragen, von denen die Dichter überwältigt wurden, schon so bald Sieg und Klarheit erwarten und fordern? Wer möchte andrerseits den Fortschritt verkennen, der in der Wandlung der Sprache, in der Kunst, sie jeder Stimmung anzugleichen und den tiefsten Empfindungen Ausdruck zu leihen, sich kundgibt? Man sucht Eigenstil und ringt damit, auch die Sprache als eigene Macht in sich zu erleben.

In einer Zeit, wo alles in die Weite und Breite, weniger in die Tiefe strebt, wo die Daseinsbedingungen soviel schwieriger und verwickelter geworden sind, werden die Menschen seltener, die abseits von dem wilden wirtschaftlichen Kampfe und allem Hasten und Jagen stehen, die sich bei bescheidenem Auskommen den höchsten Luxus gönnen, eine dem Ideal dienende Seele zu haben, ja man möchte manchmal wähnen, es werde kälter und unwirtlicher auf unserer Erde, seit ihr diese beseelteren Angesichte zu fehlen beginnen. Und doch; wer sie sucht, wird sie auch im Leben, auch in unserer Dichtung finden.

Die 80er Jahre.

Einen Grenzstein bedeutet für diese das Dreikaiserjahr 1888 gerade nicht, aber sehr wohl scheiden sich jene, die als Knaben die ruhmvolle Zeit Wilhelms I. und Bismarcks verlebten, von den Älteren, die in einer politisch matten Epoche wurzelten. So war es ein begeisterter Idealismus und hocherhobener Vaterlandssinn, der in der Seele der beiden Brüder Heinrich und Julius Hart glühte, die aus dem stillen, engumhegten Frieden von Münster in die Großstadt Berlin einzogen, von ihren mächtigen Wogen sich umbrausen ließen und in dem Bewußtsein, eine neue Zeit müsse auch für die Literatur sich anbahnen, einen großen Kreis gleichstrebender junger Genossen (wie Bölsche, Dehmel, Halbe, Hartleben, Gerh. Hauptmann, Hegeler, v. Polenz usw.) um sich sammelten, Zeitschriften gründeten und wider Scheingrößen des Tages ihre kritischen Waffengänge richteten. Überall lag Zündstoff genug, und bald loderte er auch in München auf, wo

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1536. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/407&oldid=- (Version vom 9.3.2019)