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eine kernig-fränkische Kraftnatur in Michael Georg Conrad erstand, der „Die Gesellschaft“ als Sammelplatz der jungen Stürmer und Dränger gründete.

„National und modern!“

Von sozialem und naturwissenschaftlichem Geiste war die Bewegung getragen, die bis in die Gegenwart hinein nachwirkt. „National und modern!“ war der Wahlspruch der Harts, voll frischer Lebensbejahung; die germanische Seele schien ihnen berufen, von dem verblassenden, kaltakademischen Ideal des klassischen Altertums sich frei zu machen und aus eigener Fülle des Reichtums warmes, wirkliches Leben zu spenden; eine innere Größe solle mit der politischen sich verbinden und das Theater zu einer Stätte schaffen, die Freiheit und Tiefe widerspiegele und die sittliche Kraft des jungen Geschlechts befruchte und pflege. Der Mittelmäßigkeit ward der Krieg bis aufs Messer erklärt. Nur schade, daß man die Genies nicht aus der Erde stampfen konnte, denn im geistigen Schaffen bedeuten Gewalt und Tendenz und Theorie nur wenig und vermögen das Wachsen und Bilden von Persönlichkeiten nicht in ein schnelleres Zeitmaß umzusetzen. Auch sie selbst, die Harts, blieben als Kritiker hervorragender denn als Künstler, so hohe Ziele sie sich als solche auch steckten und in tapferem Ringen zu erreichen suchten. So heilsam es war, wider die altertümelnde Dichtung eines Ebers, wider all das Konventionelle und Spielerische und Seichte auf der Bühne (Blumenthal), wider falsches Pathos und ungesunde Lüsternheit zu streiten, so bleibt doch Verneinen leichter als Bessermachen. Man entdeckte eine neue Stoffwelt, das Großstadtelend, doch damit war die neue Kunst, die jene bewältigte, noch nicht gewonnen. Die Romantik der Bohème wurde von den keckfröhlichen Studentenseelen ausgekostet und sensationell verarbeitet; es fehlte auch nicht an Energie und Leidenschaft des Gedankens und des Strebens, Zustände und Einrichtungen in Staat und Wissenschaft und Kunst umzuformen, doch jenes für den Künstler notwendigste Bestreben, ohne äußeren Zweck an sich selber zu bauen und das persönliche Verhältnis zu Zeit und Ewigkeit zu klären, war nur bei wenigen wach und rege. Die das einzelne bindenden Ideen kamen bei dem Tatsachenkultus zu kurz. So sehr man die Augen manchem öffnete, der bisher die Schattenseiten des Lebens[1] nicht hatte sehen wollen, so stieß doch die brutale Absicht ab, nun einmal zur Abwechslung das Gemeine und Niedrige in der Menschennatur, das Häßliche und Abscheuliche im Triebleben hervorzukehren. Haß ist nimmermehr so fruchtbar wie Liebe.

Das künstlerische Vermögen war weniger an der Arbeit als der Verstand. Die Theorie setzte überhaupt in dem ganzen Zeitabschnitt die Federn schaffender Dichter merkwürdig stark in Bewegung, und das bedeutet nicht – selbstbewußte Stärke. Angewandte oder umgeformte Wissenschaft erschien den einen, die besonders auf Zola fußten, die Kunst; die anderen wollten die beiden Reiche strenge sondern. So vaterlandsliebend auch die jungen Stürmer und Dränger zunächst waren, die mit Stolz auf ihre Vorgänger vor hundert Jahren, auf den jungen Goethe und Klinger und Lenz zurückgriffen, so glaubten sie doch bald, in heimischen Dichtungen nichts zu finden, was ihnen den Antrieb zur Bewunderung und Nachbildung geben könnte, denn leider fühlten sie sich selbst zu eigener idealbildender Kraft als zu schwach.


  1. Druckfehlerberichtigung im 3. Band: lies „Lebens“ statt „Lebees“
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1537. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/408&oldid=- (Version vom 4.7.2021)