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In der Wirtschaftspolitik der mittelalterlichen Stadt und ihrer Verwaltung überhaupt ist vieles vorgezeichnet, was der moderne Staat übernommen hat. Dies mußte die Aufmerksamkeit auf sie in erhöhtem Maße hinlenken in unserer Zeit, in der sich der Staat wieder zu einer intensiveren Wirtschaftspolitik entschlossen hat. Zwei Parallelen gibt es in der deutschen Geschichte zu unserer Wirtschaftspolitik: die mittelalterliche Stadtwirtschaft und den Merkantilismus, der seinerseits gewissermaßen eine Übertragung der Grundsätze der Stadtwirtschaft auf ein größeres Gebiet darstellt. Man faßt unsere heutige Politik als eine Wiedergeburt des friderizianischen Staatsgedankens, als Neumerkantilismus auf. Es ist daher begreiflich genug, wenn die Studien zur Geschichte des Merkantilismus mit erhöhtem Eifer betrieben werden.

Unsere Handelspolitik hat aber noch eine besondere Seite, die Wendung nach außen, die starke Betätigung des deutschen Kaufmanns im Ausland, die Kolonial- und Weltwirtschaftspolitik und, zu ihrem Schutz, die Flottenpolitik. Hier lenkt sich der Blick zu den glanzvollen Zeiten der alten Hansa. Die hansische Geschichtsforschung, die von jeher den Ruhm strenger deutscher Wissenschaft trug, ist heute noch mehr in das Gesamtleben der Nation getreten. Wie die hansischen Erinnerungen zur Belebung unserer Weltwirtschafts- und Flottenpolitik mitgewirkt haben, so boten die Anforderungen unseres Wirtschaftslebens einen erneuten Anreiz zur Vertiefung in die hansische Geschichte. Der Ursprung der Hanse, die Zeit ihrer kraftvollen Entfaltung und ihr Untergang sind an den meisten Punkten von Grund aus neu untersucht worden. Die Geschichte der Hanse liefert den Beweis, daß der Handel eines Volkes ohne starken politischen Rückhalt nicht gedeihen kann. Die historisch-politischen Beobachtungen, die sich aus der hansischen Geschichte gewinnen lassen, faßte Dietrich Schäfer in einer eindrucksvollen Schrift („Deutschland zur See“, 1896) zusammen, mit der er zugunsten der Verstärkung unserer Flotte eintrat. Auf der andern Seite folgte die hansische Geschichtsforschung den Anregungen der Gegenwart, indem der hansische Geschichtsverein sein Programm über sein engeres Gebiet hinaus erweiterte und sich die Erforschung der Verkehrs- und Seegeschichte Deutschlands zum Zweck setzte.

Nur im Vorbeigehen gedenken wir des großen Aufschwungs der antiken Wirtschaftsgeschichte, die durch die neuen Funde der Papyri eine besondere Anregung erhielt.

Die Grenzgebiete der Geschichtswissenschaft .

Auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeschichte werden heute die Studien an so vielen Stellen und von so zahlreichen Forschern betrieben, daß wir in eine unübersichtliche Titelaufzählung geraten würden, wenn wir bestimmte Werke und Autoren namhaft machen wollten. Manchen wichtigen Baustein haben in unserer Periode auch die Nationalökonomen zur Wirtschaftsgeschichte beigesteuert. Doch sind innerhalb ihrer Disziplin die wirtschaftsgeschichtlichen Studien in der letzten Zeit verhältnismäßig zurückgegangen, was dadurch veranlaßt ist, daß man hier die begriffliche Durchdringung des Stoffes vielfach vernachlässigte, auch die echte historische Methode anzuwenden unterließ. Um so mehr sehen die zünftigen Historiker es als ihre Aufgabe an, sich der Pflege der Wirtschaftsgeschichte zu widmen.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/41&oldid=- (Version vom 11.5.2019)