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Heinrich Seidel und Hans Hoffmann, und Wilhelm Raabe, der ehrwürdige Alte mit dem unverwüstlichen Herzen, empfing auch erst, als sein Tagewerk zur Rüste ging, den längstverdienten Dank der Nation. – Welche Güter nun übermittelten diese begnadeten Geister denen, die in den letzten Jahrzehnten sich mit wahlverwandter Seele oder erst allmählich bezwungen in ihre Dichtung versenkten? Die älteren unter ihnen haben das Erbe einer großen Zeit (Klassizismus und Romantik) in unsere Tage hinübergerettet, sie haben in unverfälschtem Künstlertum nur ihrem Genius gehorcht, unbekümmert um das Tagesgeschrei; der Wirklichkeit gaben sie ihr Recht und beseelten doch den Stoff und prägten der Sprache den Stempel ihres Geistes auf; auch sie haben tiefes soziales Empfinden, und leidenschaftliche Töne der Liebe und des Hasses und des Zornes sind ihnen nicht fremd; manche von ihnen sind arm, von Sorgen umdrängt, durch das Leben gewallt; aber Schmerzen sind Freunde, sie vertiefen die Seele, und so schürften sie, die Reichen, Gold aus ihrem Innern und streuten es aus, in freigebiger, wenn auch leidvoller Wonne; sie sind von heißer Liebe zur heimischen Scholle, zum großen Vaterlande durchdrungen; sie sehen unerschrocken der Sphinx des Lebens ins dunkle Auge; sie kennen die Schwächen der Menschen und freuen sich trotz alledem der Welt und bejahen mit sieghaftem Humor die süße Gewohnheit des Daseins. Denn was ist Humor?

Humor ist Weltanschauung, ja Weltüberwindung durch die Kraft des Gemüts, durch Weltliebe, daher dem Naturalismus fast ganz fremd. Seine Formen sind sehr mannigfach. Am sonnigsten ist er bei Keller ein wahrer Seelentrost, mag er seinen „Grünen“ auch durch Leiden erst zum Ziel führen. In deutscher Sprache gibt es nicht viel Herrlicheres an Sprachgewalt und Süße und Milde und Güte des Herzens als seine „Legenden“. Auch bei Storm spielen überall freundliche Lichter des Humors hinein; auch sein Herz war „nicht umzubringen“; er verzweifelte auch in trübster Zeit nicht an der Zukunft seines Vaterlandes, und was er „für seine Söhne“ schrieb, das kann auch heute noch deutscher Jugend als Leitstern zu echtem Mannestum voranleuchten.

Wilhelm Raabe.

Raabe ist unter den Großen, die schon im fünften Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zu schaffen begannen, uns am längsten erhalten geblieben, und viele von uns wallfahrteten zu dem Alten in Braunschweig, wie einst mit Tausenden zu dem Alten im Sachsenwalde. Es ist ein Zeichen innerer Gesundheit unseres Volkes, daß unter allen Ständen, Berufsklassen und Parteien die Anhängerschaft für Raabe wächst, daß sich überall Raabe-Gemeinden gebildet haben und somit aus der Erinnerung an ihn noch eine werbende Kraft ausgeht. Er ist wie Storm und Keller zum „Studium“ geworden; nicht bloß auf den Universitäten, sondern allüberall gräbt man in seinen Werken, um in die tiefen Schächte der Raabe-Weisheit einzudringen. Er ward noch alt genug, um die Anfänge davon zu erleben, um beim Abendgang die wärmenden Sonnenstrahlen, nicht eitlen Ruhmes – auf dessen Zeichen pfiff er –, sondern echten Verstehens und tiefer Liebe zu spüren, so daß ihm im Winter seines Lebens doch eine „lichte Weihnachtsstube“ zuteil wurde. Möchte er Recht behalten mit dem Wort: „Wir sind nachdenklich deutsches Volk, und es ist kein anderes, das so gut und ehrfurchtsvoll mit den Toten umzugehen weiß.“ – Bei Raabe ist alles

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1544. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/415&oldid=- (Version vom 11.5.2019)