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Keller, Storm und Fontane selbst: „Er hatte das, was über alles Zeitliche hinausliegt, was immer gilt und immer gelten wird, ein Herz. Er war recht eigentlich frei. Nichts Menschliches war ihm fremd, weil er sich selbst als Mensch empfand und sich eigener menschlicher Schwäche bewußt war. Er war das Beste, was wir sein können: ein Mann und ein Kind.“

Eine im höchsten Sinne durch edles Maß gebändigte, aristokratische Dichternatur tritt in C. F. Meyer uns entgegen, dessen „Angela Borgia“ den Beschluß der reichen Reihe historischer Romane und Novellen bildete (1891); er ward Bahnbrecher einer neuen Kunst, weder dem Klassizismus noch der Romantik huldigend; in seiner Epik und Lyrik ist etwas bis dahin Nichtgewesenes und Nichtwiederholtes gegeben, das bis in die kleinsten Verzweigungen des Stils und der Technik sich kundgibt: ein in schönen, reinen Formen gehaltener, keusch verhaltener Realismus. –

Doch die Schweiz stellte noch einen großen, zeitlosen Dichter über die Kämpfe der Zeit. Als ein Einsamer, der spät zum Schaffen und spät zur Anerkennung gelangte, steht Karl Spitteler da. Er ist einer der wenigen großen Epiker dieser Epoche, in voller Selbstherrlichkeit vor Nietzsche sich behauptend, und auch seine Lyrik ist nur mit eigenen Maßen zu messen. Eine gradezu mythische Phantasie schöpft in den großen Epen aus den tiefen Quellen des Kosmos; die antike Götterwelt ersteht neu in einem ganz modernen Geiste, der unerschöpflich ist in Schönheit, der bald in spöttischem Humor, bald in ernster Gemessenheit, bald in tollen Sprüngen sich bewegt, und die uralten Rätselfragen werden als ewig junge empfunden. Die unvergleichliche Erfindungsgabe reißt mit sich fort. Freilich muß man mit Bedacht lauschen, verweilen können, und das behagt unserer hastenden Zeit nicht; übrigens auch sie sagt ihm selbst nicht zu; er vermißt an ihr Mannesmark und jenen Mut, der im Gewissen sitzt. In tragischer Lebensanschauung hält er es für die Aufgabe des Epikers, durch den Sonnenschein der äußeren Welt in hohle, finstere Tiefen zu schauen; doch auch in seiner Welt sind Lichtkräfte tätig, und in den „Glockenliedern“ klingt auch der Ton jauchzenden Humors.

Eine gewisse epische Kühle und Herbheit in der Technik ist auch Marie v. Ebner eigen, aber ihr Herz ist ganz Güte und Weisheit, voll tiefen sozialen Mitgefühls mit den vom Adel unterdrückten Dörflern, mit dem oft so edlen und reinen Menschentum, das in der Gestalt des armseligen Menschenkindes wohnt und aus seiner Hemmung und Lähmung nur befreit und aus seinem Schlummer nur geweckt werden muß. Ohne Pathos und Feierlichkeit setzt sie Strich für Strich und entwirft düstere Bilder, aber auch sonniger Humor liegt über mancher Erzählung, sowie Liebe zu Kindern und zu Tieren, und in ihren Sprüchen münzt die edle Frau einen Herzensreichtum aus, wie er nur wenigen Zeitgenossen eigen ist. Männliche Kraft zeichnet die Erzählerin Marie Ebner aus; etwas frauenhaft Weiches, liegt wie zarte, melancholische Stimmung über vielen Erzählungen Ferdinand v. Saars, der selbst am Leben zerbrach, wie er so viele zerbrochene schildert.

In der Novellenkunst blieb und bleibt Paul Heyse unerschöpflich, nicht sonderlich tief, doch die goethische Überlieferung in Stil und Reinheit und Plastik der Form festhaltend und dabei die modernsten psychologischen Probleme mit Anmut und Geist behandelnd; heiß rang er um die dramatische Palme, doch seine Natur ist durchaus

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/417&oldid=- (Version vom 11.5.2019)