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episch: Andererseits ist das Wesen Martin Greifs rein lyrisch, in Naturbildern zeigt er eine goethische Einfachheit und wundervolle Zartheit; für das Drama fehlte es ihm doch an Wucht, Kraft, Leidenschaft. Klaus Groths Größe war im „Quickborn“ erschöpft. Der wird aber auch ein lebendiger Quell bleiben, und eine reiche plattdeutsche Zeitschriftenliteratur verjüngt sich an ihm unablässig.

Im Norden hielt das Erbe des Reuterschen Humors in seiner naiven Volkstümlichkteit Heinrich Seidel fest, der vom Jahre 1888 ab mehr und mehr Liebe in allen Kreisen gewann, besonders mit seinen Leberecht Hühnchen-Geschichten; mit ihm wetteiferten in Plaudereien, Scherz- und Kindergedichten Johannes Trojan und Viktor Blüthgen. Schwerer wog der Pommer Hans Hoffmann, im Reichtum seines Humors bald Raabs, bald Reuter sich nähernd, ein feiner Künstler, eine harmonische Persönlichkeit, ein echter Freudenbringer und Trostspender; auch an Kraft und Farbe fehlt es seinen Novellen nicht.

Doch in den neunziger Jahren verdunkelte ein Schleswig-Holsteiner, gehoben von der Naturalismus-Bewegung, alle übrigen in Nord und Süd: Detlev v. Liliencron.

Detlev v. Liliencron.

„Unter flatternden Fahnen“ nannte sich die erste Reihe seiner „Kriegsnovellen“ (1888), doch daß in diesen sich ein sieghaftes Talent von stürmischer Kraft ankündige, ahnten nur die wenigen, die schon die „Adjutantenritte“ (1883) mit Staunen und Bewunderung begrüßt hatten. Denn solche schneidige Frische, solch scharfes Zupacken, solche kecke Freilichtmalerei hatte es in der deutschen Lyrik noch nicht gegeben. Hier war eine Revolution der Lyrik in Wirklichkeit gegeben, so sehr auch Liliencron an die gute alte Überlieferung, an Storm, anknüpft. Radikales und Soziales mischt sich bei ihm mit Königstreue und Junkertum, und Sinnenfreude mit Melancholie. Er hat mit den Dämonen seines Innern gerungen, und aus dem gärenden Most ward klarer Wein. Den „Impressionen“ seiner Heimat gab er sich mit den scharfen Sinnen des Jägers und Soldaten hin, doch auch grausige Visionen wußte er mit packender Gewalt hinzustellen; am höchsten stehen die Kriegsnovellen und Balladen; unausgeglichen wie er selbst, wie seine Zeit, ist das genialste Werk: „Poggfred“; es begeistert und entrüstet, entzückt und ernüchtert zugleich. Liliencrons Geistigkeit enträt der Tiefe. „Irgendein Furchtbares steht über uns, das Schicksal, dem keiner entrinnen kann, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“ Doch auch er spürte: „Es ist ein unverkennbares Zeichen unserer Zeit, daß die Menschen wieder zur Religion zurück wollen. Wer wird sie führen?“

Für den Dichter, der unter den Mitlebenden allein in die Zukunft fortdauern werde, für den berufenen Kündiger der „Zeitseele" hielt Liliencron mit sicherer Witterung: Richard Dehmel.

Richard Dehmel.

Die „Gesammelten Schriften“ (seit 1906) enthalten einen geistigen Lebensertrag, der Bewunderung einflößt, auch wenn man nicht immer sogleich versteht oder gar sich abgestoßen fühlt. Dehmel ist in seiner vulkanischen Natur nicht ein Dichter für die Masse; er weiß aber genau, was ihn von l’art pour l’art, was ihn von Nietzsche trennt. Die Kunst ist ihm Lebensäußerung des

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1547. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/418&oldid=- (Version vom 11.5.2019)