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ganzen Menschen; ihre Wirkung zielt aus Ausgleich des Widerstreites zwischen Ichgefühl und Allgefühl, Selbstbewußtsein und Selbstvergessen, auf die Erringung jenes geistigen Allgemeingefühls, das den vom Schicksal getriebenen Einzelmenschen über sein Schicksal erhaben macht, über inneres und äußeres. Er will Triebleben und Geistesleben, Welt und Herz und Gott zu einem Ringe zusammenschließen, auf der einen Seite das Glück seiner Lust nicht zähmen, auf der anderen sein Selbst erziehen und zügeln. Ein starkes Pathos und ein tiefes Ethos sind in diesem wahrhaft männlichen, energievollen Geiste vereint. Liebes- und Naturlieder von bezauberndstem Rhythmus hat er gesungen, und die sozialen zeigen die Überwindung der Tendenz und den hohen Flug zu reiner Kunst. „Zwei Menschen“ ist ein Epos von großartigem Aufbau, von Sprach- und Bildergewalt; nur schade, daß Romanhaftes und Brutales es entstellt. Hier ringen zwei Menschen, nachdem sie sich gesucht und gefunden haben, aus dem engen Ichgefühl zum Weltgefühl empor, indem sie sich selbst überwinden. Wie überall sucht Dehmel auch im Drama neue Wege; er sucht das Tragische zu läutern, indem er an die Stelle der Frage: Was ist uns das Leben? die andere setzt: Was sind wir dem Leben wert? Und ist das nicht eine herrliche Mahnung für unsere selbstsüchtige Zeit?

Moderne Lyrik.

Wie Kometen einen langen Sternenschweif ziehen, so hatten auch die bedeutendsten Lyriker der Zeit, Liliencron und Dehmel, eine große Schar begeisterter Jünger. Die einen sangen fröhliche, sonnige Weisen, wie Bierbaum und Hartleben, die anderen sind grüblerischer oder still ironischer oder den Kosmos in Bewegung setzender Art (Chr. Morgenstern, Evers, Hille, Mombert); nur wenige rangen sich zu einem so abgeklärten Künstlertum hindurch wie G. Falke, Herm. Hesse, Schaukal, Ric. Huch, Isolde Kurz. Auch „Satanskinder“ tauchten auf, „Naturalisten der nackten Seele“ (Przybyszewski), und enthüllten das Wesen der Décadence: sie ist die zitternde Nervosität der Überfeinen, eine beständige, schmerzhafte Erregbarkeit bloßgelegter Wunden, ewiges Anschwemmen und Zurückfluten einer trankhaften Sensibilität, ein stetes Unbefriedigtsein des Raffinements, die Müdigkeit der Überempfindlichen. Ein Kultus wird mit der Einsamkeit, mit dem Selbstgenuß getrieben; das zwiespältige Ich wird in allen seinen Regungen mit heimlichem Grausen erlebt, und mit den süßesten Tönen wird das Sterben in Schönheit gefeiert (Hugo v. Hofmannsthal); Trost und Begeisterung gewährt nur die Versenkung in die Natur (Wille, Hille, Flaischlen); Joh. Schlafs „Frühling“ (1893) ist eine Dichtung voll Weltseligkeit, geboren aus heißem Herzen, geflossen von stammelnden Lippen. Mit der Naturmystik verbindet sich das Heimverlangen nach Religion. Wie Hauptmanns „Emanuel Quint“, so sind viele Dichter von schmerzlichsten Sehnsüchten durchglüht und erschauern in Andacht (Rilke, Schüler, Philippi, Knodt, Benzmann).

So exklusiv auch der Kreis um Stefan George („Blätter für die deutsche Kunst“), so marmorkühl sein Formprinzip ist, so läßt doch auch er den Traum, die Versunkenheit in das Geheimnis der Dinge walten; dämmernde Sehnsucht, gestaltlose Trauer, unsagbare Stimmungen, Schattenbilder aus dem Reiche des Unsinnlichen sind der Gegenstand einer Kunst, die allem Natürlichen und allem Volkswesen abgewandt ist. Der „Charonkreis“ strebt eine Erneuerung des Stils, des sprachlichen Rhythmus an (Otto zur

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1548. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/419&oldid=- (Version vom 11.5.2019)