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Linde). Wer weiß, ob mit den Formwerten sich Ewigkeitswerte verbinden? – Hoffnungsvolle Talente lyrischer Kunst künden sich besonders in E. Lissauer und Will Vesper an; in der Ballade hat sich zum Meister in ernster Arbeit emporgerungen Börries v. Münchhausen, eine echte Adels- und Künstlernatur; von unmittelbarster Begabung getragen sind die Dichtungen Agnes Miegels, und von tiefwurzelndem Können zeugen die Balladen von Lulu v. Strauß und Torney.

Wir können die Summe ziehen: An Fähigkeit des Ausdrucks für das Feinste und Tiefste, für das unheimlich Brütende des Innern, aber auch für das Gesunde und Kraftvolle und Zukunftfreudige, an Bildkraft für das Geschaute und Gehörte, an Rhythmik und innerer Melodie hat die moderne deutsche Lyrik die der früheren Zeiten vielfach übertroffen.

Um die Wende des Jahrhunderts. Erzählungskunst.

Es war höchst verdienstlich gegenüber müdem Ästheten- und Dekadententum und schwächlicher Fremdländerei, daß Männer ernst gerichteter Art und schaffensfreudiger Kraft, wie Adolf Bartels und Friedrich Lienhard, um die Jahrhundertwende wieder zu bodenständiger, schlichter Kunst aufgerufen hatten; auch der Deutsche Sprachverein, 1888 gegründet, hatte das Seine getan. Es wäre jedoch einseitig und gäbe ein falsches Bild, wollte man alles Gute, das die Erzählungskunst in der Zeit in den verschiedenen Landesteilen emporwachsen ließ, auf den dünnen Faden dieses engen Begriffes „Heimatkunst“ aufreihen. Ohne zugleich „Höhenkunst“ zu sein, hat sie nur beschränkten Wert. Was kann aber erfreulicher und für die Gesamtheit gedeihlicher sein als die Vereinigung von Volksschriftsteller und Künstler! Und wieviel stählende, nährende Kraft wurde dargeboten im Norden von Söhle, Sohnrey, Loens, Speckmann u. v. a., im Süden von Hansjakob, Rosegger, Ganghofer, Schmidt, Zahn u. a.!

Die moderne Erzählungsliteratur sog aus der zarten lyrischen Kunst und aus der derberen gegenständlichen Darstellungsweise des Naturalismus ihre Wurzelkraft; unverkennbar lebt in ihr ein zur Tiefe und zur Höhe weisender, psychologischer Realismus. Worin das Drama versagte, im Zeit- und Weltbild, da setzte der Roman ein. Alle geistigen und sozialen Nöte und Schwächen und Stärken unserer vielbewegten Gegenwart, alle die tausend neuartigen Probleme und Konflikte einer gärenden Epoche, Ehe und Gesellschaft, Frauen- und Mutter- und Kindesrecht, Sittlichkeit und Religion, Handwerk und technische Arbeit in Stadt und Land umspannend, werden mit tiefstem Miterleben, mit nicht geringer sprachlicher Kunst dargestellt. Eine Fülle von Romanen und Novellen führt aber auch in ältere Zeiten zurück und nicht minder in ferne Welten, kein Roman tapferer und wirkungsvoller zugleich als Frenssens „Peter Moors Fahrt nach Südwest“, keine Novellen farbenrechter als die von Dauthendey. Es ist nicht leicht, den Ariadnefaden durch die Labyrinthe der dem Massenbedürfnis dienenden Unterhaltungsliteratur zu finden und die Grenze zu bestimmen, wo sie zur Kunst wird. Die Ich- und Bekenntnisform steht neben der zuständlichen Schilderung; die Skizze und Anekdote und die engumgrenzte, doch vor- und rückwärts weisende Novelle neben dem breit ausmalenden

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1549. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/420&oldid=- (Version vom 11.5.2019)