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zu fragen, unter denen sie ans Licht treten, und nach den Kulturfaktoren, die sie hervorbringen. Eine Zeitrichtung, die nicht bloß auf die sozialistischen Kreise beschränkt war, wollte lediglich wirtschaftliche Verhältnisse als Ursachen der historischen Erscheinungen anerkennen. Hier liegen die Irrwege der sozialistischen Geschichtschreibung, die die historischen Erscheinungen auf rein wirtschaftliche Verhältnisse zurückführt und es z. B. fertiggebracht hat, die christliche Religion als eine bloße Spiegelung bestimmter Klassenzustände, als die utopisch-jenseitige Spiegelung des spätantiken Lumpenproletariats zu erklären. Aber, wie bemerkt, nicht nur der Sozialismus huldigte einer solchen Neigung. Auch in breiten bürgerlichen Kreisen übte man oft nicht viel mehr Zurückhaltung. Man glaubte den Stein der Weisen in dem überall vorhandenen entscheidenden wirtschaftlichen Motiv zu haben. Unsere Zeit hat viel Übertreibungen dieser Art gesehen, aber auch die Korrektur gebracht. Wir stehen heute am Schluß lebhafter Debatten und können mit Befriedigung konstatieren, daß Einseitigkeiten jener Art in der Hauptsache überwunden sind.

Geschichtsphilosophie.

Die Beschäftigung mit den Motiven der historischen Erscheinungen bildet andrerseits wiederum nur einen Teil einer allgemeineren Richtung der Geschichtswissenschaft unserer Zeit: des Verlangens nach geschichtsphilosophischer Besinnung. Nachdem lange Zeit der reine Empirismus vorgeherrscht hatte, hat in unserer Periode wieder die Philosophie ihren Einzug in unsere Disziplin gehalten. Man fragt nach Zweck und Sinn der Geschichtswissenschaft, ihren Grundlagen, ihrem Wesen und ihrer Methode; man will wissen, weshalb sie so verfährt, wie es ihr Brauch ist. Man fragt ferner nach den maßgebenden Faktoren der geschichtlichen Entwicklung, nach dem Zusammenhang der verschiedenen Seiten der Kultur. Dies jetzt hervortretende Streben, über die eigene Disziplin zur Klarheit zu gelangen, geht auf mannigfache Anregungen zurück. Wie es aber zu geschehen pflegt, hat ein Vorstoß gegen unsere alte Methode die Diskussion besonders entfesselt und ihr einen größeren Rahmen gegeben. Karl Lamprecht trat am Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts unter heftigen Anklagen gegen die Rankesche Schule, gegen die politische Geschichtschreibung als Reformator der Geschichtswissenschaft auf. Er verlangte die Übertragung der naturwissenschaftlichen Methode auf die historischen Studien. Nach ihm verläuft die geschichtliche Entwicklung naturgesetzlich. Jedes Volk macht dieselbe gesetzmäßige Entwicklung durch. Diese Gesetze benannte Lamprecht auch bereits. Das maßgebende Bewegungselement sind nach ihm stets die wirtschaftlichen Verhältnisse. Der einzelnen Persönlichkeit mißt er keine selbständige Bedeutung zu. Die Massenbewegungen sind es, womit es die Wissenschaft zu tun hat. Das von ihm konstruierte Schema unternahm er dann (allerdings nicht mit voller Konsequenz) in einer Darstellung der „deutschen Geschichte“ durchzuführen. Es waren nicht irgendwelche politische oder sozialistische Tendenzen, die ihn zu seiner Theorie geführt hatten. Sein Versuch geht vielmehr wesentlich auf allgemeine positivistische Anschauungen zurück, deren Anhänger damals mancher war, ohne sich über die Herkunft seiner Ansichten Rechenschaft geben zu können. Lamprecht trieb Meinungen, die in breiten Schichten

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/43&oldid=- (Version vom 11.5.2019)