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schon geteilt wurden, auf die Spitze. Er war einer von vielen, eifriger nur und mit mehr Ansprüchen als die anderen. Der leidenschaftliche Kampf, den seine Angriffe veranlaßten, hat das Ergebnis einer vollkommenen Rechtfertigung der alten historischen Methode gezeitigt. Er hat das Gute gehabt, daß die Historiker sich in erhöhtem Maß ihres Rechtes bewußt geworden sind. Insofern dies Resultat indirekt durch den von Lamprecht veranlaßten Kampf herbeigeführt worden ist, wird ihm ein Verdienst um die Klärung und Vertiefung der Anschauung zuzusprechen sein. Aber seine Theorie selbst wurde ganz und gar zurückgewiesen. Heute lehnt man allgemein die Konstruktion naturgesetzlicher Entwicklungsreihen ab. Heute weigert sich kein Historiker, der leitenden Persönlichkeit ihr Recht zuteil werden zu lassen. Das Recht des Individuums ist in verstärktem Maße zur Anerkennung gelangt. Das besondere Leben gilt uns mehr als der unentschiedene Strudel. Der Historiker richtet sein Augenmerk nicht bloß auf das Allgemeine, Regelmäßige, sondern vor allem auch auf das Einzigartige, das für den geschichtlichen Fortschritt Bedeutsame. Man weiß, daß die Geschichtswissenschaft ihre eigene Methode hat. Lamprecht selbst sah sich im Lauf der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern genötigt, seine Theoreme zu wandeln oder zu modeln.

Wie schon bemerkt, war er es übrigens nicht allein, der der Neigung folgte, die geschichtliche Entwicklung nach der Analogie der Naturvorgänge zu deuten. Er stand eben innerhalb der positivistischen Flut. Die Aufstellung von „Stufentheorien“, von Gesetzen, denen die geschichtliche Entwicklung in naturgesetzlicher Weise unterworfen sei, geschah von vielen Plätzen aus. Und so hat sich denn die Geschichtswissenschaft mit mancherlei Entwicklungstheorien auseinanderzusetzen gehabt. Im Kreise der wirtschaftsgeschichtlichen Studien spielte in den letzten Jahrzehnten vor allem die Stufentheorie „Haus-, Stadt-, Volkswirtschaft“ eine Rolle. Die historische Forschung hat dargetan, daß diese Kategorien mit Erfolg zur Veranschaulichung bestimmter wirtschaftlicher Zustände verwertet werden können, daß es aber durchaus unzulässig ist, jene drei Stufen in ein festes historisches Verhältnis zu bringen, das für alle Völker gleichmäßig gelten oder das gar den ganzen Gang der Weltgeschichte bezeichnen solle. In dem Kampf gegen die Versuche, die naturalistische, positivistische Auffassung in der Geschichtswissenschaft zur Herrschaft zu bringen, hat uns die Philosophie, insbesondere die Windelband-Rickertsche Philosophie, den fruchtbarsten Beistand geleistet, nicht in dem Sinne, daß sie uns ein philosophisches System auflegen wollte, sondern indem sie nachwies, daß der alte Weg, den die Historiker gegangen, der richtige ist.

Pflege und Ausbau der politischen Geschichtschreibung.

Es ist eine Erweiterung des Arbeits- und Gesichtsfelds, dessen sich die deutsche Geschichtschreibung der letzten Jahrzehnte rühmen kann. Aber es ist nicht etwa (wie manche kulturgeschichtliche Fanatiker prophezeit hatten) ein Zeitalter heraufgezogen, welches die früher fast ohne Rivalen dastehende politische Geschichtschreibung entthront hätte. Diese bleibt vielmehr im Vordergrund stehen. Richtig verstanden, sind alle einzelnen kulturgeschichtlichen Disziplinen Hilfswissenschaften der politischen Geschichte, mag das Tagewerk in einer Hilfswissenschaft auch ganze Scharen

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/44&oldid=- (Version vom 11.5.2019)