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Schwarzweißkunst sich in den Dienst der Erhebung durch religiöse Kunstwerke gestellt; man hat das Wagnis unternommen, durch Abstraktion von der überlieferten Formenwelt und durch neue Allegorien das moderne, von anthropomorphen Vorstellungen befreite, dem „Wort“ zugewandte geistig-seelische, religiöse Gefühl zu befriedigen. Wie immer man dies heiße, hingebungsvolle Ringen seinen Ergebnissen nach einschätzen mag, die Tatsache dieser vielgestalteten Arbeit spricht von ebendemselben hohen und echten Idealismus, welcher die Erforscher der Erde und der Elemente, Tag um Tag, Gut und Leben ihren Zielen opfern heißt. Aus solchen und anderen kleineren und größeren inneren Werten nimmt meiner Ansicht nach die neue Monumentalmalerei ihren Ursprung. Eine maßgebende Vorbedingung hierzu ist, das Vermögen, den Menschen, besonders den Akt künstlerisch tadellos darstellen zu können.

Nacktkunst.

Hier hatte der Impressionismus mit seiner summarischen Behandlungsweise und seiner Betonung der Wirkung des Sonnenlichtes im freien Raum, seiner Fernsicht und Vernachlässigung der Nahsicht sowie Gleichgültigkeit gegen die besonderen geistigen und körperlichen Eigenschaften des Menschen entschieden eine verderbliche Einwirkung gehabt. Wenn trotzdem die Figurenmalerei nicht gänzlich übersehen ist, so haben dafür einesteils die Überlieferung in den Akademien, andernteils die Neoklassizisten gesorgt. Diese um so mehr, als sie zum Teil noch der altmeisterlichen Farbenmalerei treu geblieben sind. Max Klinger hat am eindringlichsten den Wert der Darstellung des Körpers für die Kunst charakterisiert, wenn er schreibt: „Der Kern und Mittelpunkt aller Kunst, von dem sich die Künste in der weitesten Entwicklung loslösen, bleibt der Mensch und der menschliche Körper. Es ist die Darstellung des menschlichen Körpers, die allein die Grundlage einer gesunden Stilbildung geben kann. Alles, was künstlerisch geschaffen wird in Plastik wie Kunstgewerbe, in Malerei wie Baukunst hat in jedem Teil engsten Bezug zum menschlichen Körper. Die Form der Tassen wie die Bildung des Kapitäls stehen jedes in Proportion zum menschlichen Körper. Auf dem Verständnis und der gleichmäßigen Ausbildung dieser Verhältnisse kann allein eine selbständige Naturauffassung sich entwickeln. Denn wie kann ich ein Nebending charakteristisch vereinfacht darstellen, wenn ich die Hauptsache, auf die es Bezug hat, nicht charakteristisch zu formen weiß. Wer eine Hand nicht zu bilden weiß, wird auch keine Handhabe darstellen können, ausgenommen, er stiehlt anderswoher. Und so leben wir heutzutage in jeder Kunst auf Raub. Das Studium und die Darstellung des Nackten sind das A und O jeden Stiles.“ Solche künstlerischen Ansichten fanden in einer Reihe von begleitenden Erscheinungen allgemein kulturellen Ursprungs kräftige Unterstützung. Ich erwähnte bereits, daß seit ca. 1895 in der Landschaftsmalerei ein Streben nach glanzvollen Raumdichtungen sich zu äußern beginnt, und daß das Individuum von neuem in bestimmenderer Weise auf den Plan trat. Gerade um diese Zeit kam unsere gesamte völkische Entwicklung wieder ein wenig aus dem Sprunghaften und Unruhigen heraus. Es machte sich überall trotz und wegen der großen wirtschaftlichen Verbände aller möglichen Art, und im Gegensatz zu der allerdings sehr notwendigen Spezialisierung die einzelne Persönlichkeit in sicherer Kraft wieder geltend. Die Weltanschauung des Sozialismus begann sich von neuem mit der schöpferischen Macht des Einzelwesens auseinanderzusetzen, und dessen Schale senkte sich diesmal. In der

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1586. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/457&oldid=- (Version vom 28.9.2022)