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und zusammengefaßten Steinform oder zu starke Unterstreichungen der Einzelform, eine übermäßige Betonung der Bewegungsmotive oft genug vorkommen. Diese Einschmiegung in die Architektur und eine gewisse Furcht vor dem Zuviel in der Natur hat auch reichlich intensiv den Blick auf architektonisch und stilistisch streng gebundene Bildhauereien verflossener Zeiten, wie etwa auf die der Ägypter und Assyrer gelenkt, weil man hier nicht die rhythmisch-architektonische Anlage der Griechen, sondern eine symmetrisch-architektonische Linie antraf, deren manchmal etwas schroffe Eckigkeit an die Bilder der Momentphotographie zu erinnern scheinen, und deshalb in doppeltem Maße als richtig angesehen werden. Alle Nachteile erscheinen jedoch geringer als der eine große Vorteil, allmählich zu einem neuen Typus in der Menschendarstellung zu gelangen.

Menschentypus.

Es sind unbestreitbar starke Ansätze vorhanden, aus dem überlieferten, im wesentlichen auf der Antike und der Renaissance ruhenden Menschentypus zu einer neuen Aktgestalt durchzudringen, die germanischen Grundcharakter aufweist. Die Bildhauer werden von einem formal schöpferischen Sollen ins Große über alle Tradition hinausgedrängt, und damit wird von den lebenden Steinbildnern eine gar nicht überschätzbare Leistung vollbracht oder, besser gesagt, vorbereitet. Diese Beobachtung wurde schon 1892 gemacht. Die Eigentümlichkeit des deutschen Künstlers, von den individuellen Eigenschaften auszugehen, um von dort zur Einheit zu gelangen, also in einem gewissen Gegensatz zur Antike sich nicht von objektiven Gesichtspunkten beherrschen zu lassen, tritt klar heraus. Nicht minder, daß der Akzent auf die durch körperliche Übungen gleichmäßig durchgearbeitete Form, auf die Kraft und nicht auf die flüssige Eleganz der Linien und der sich weich ineinanderschmiegenden Flächen gelegt wird. Dabei braucht man nicht zu übersehen, daß das Studium der Körperbildungen afrikanischer und orientalischer Völker die Gefahr des von Überallhernehmens in sich trägt, aber die Kenntnisnahme von noch nicht der Konvention untertänigen Menschen schließt auch Bereicherungen allgemeiner Art in sich ein. Das Fremdartige schärft zudem das Auge für die einheimische Art. Der lebhafte Wunsch der Künstler, immer neue Materialien zu verwenden, beweist das schaffensfreudige Vorwärtsdrängen. Der Muschelkalk mit seiner eigenartig zerklüfteten Oberfläche begünstigt z. B. das Streben nach neuzeitlichen Lichtwerten und das unbemalte Holz in seiner spröden Weichheit unterstützt, besonders im Porträt, eine gefällige Herbheit. Wie immer wir über Einzelheiten und Einzelbestrebungen urteilen wollen oder müssen, es wird jedenfalls für den, der unbefangen zu urteilen sich bemüht, feststehen, daß die „männliche“ Kunst der Bildhauerei seit ca. 25 Jahren stetig mehr betont und heute wieder in die erste Reihe der bildenden Künste einzutreten berechtigt ist. Diese Annahme wird gekräftigt durch die Wahrnehmung, daß sich ebenso wie bei den Malern, so auch bei den Bildhauern, die einseitig hervorgehobenen Besonderheiten der älteren und der neuen Bestrebungen abzustumpfen beginnen. Der gegenseitige Respekt vor den positiven Leistungen ist gestiegen. Die mehr oder weniger altmeisterlichen Realisten, die scharfsichtigen Naturalisten, die Neoklassizisten, die impressionistisch auffassenden Bildhauer, die stilistisch-tektonischen Bildner beginnen gemeinsame Gesichtspunkte zu erhalten. Allerorten herrscht jedenfalls das Erfolg verbürgende Gefühl, voranzuwollen.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1593. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/464&oldid=- (Version vom 28.9.2022)