Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 3.pdf/465

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Nach den Lehren der Kunstgeschichte kann eine allgemeine Freude an der körperlichen Erscheinung wie an der körperlichen Kraft bei vorhandenem Trieb zur Plastik und eine angemessene Verbindung der Skulptur mit der Baukunst, bei Anerkennung der beiderseitigen Rechte, die Hoffnung erfolgreicher Entwicklung zu einer stilsicheren Bildhauerei als berechtigt erscheinen lassen. Beide Grundbedingungen dürften heute, kaum bestreitbar, vorhanden sein.


* *
*


Verfallzeit oder Kunstblüte?

Obwohl es richtig ist, daß die Geschichte erst 50 Jahre nach rückwärts in der Zeitenrechnung beginnt, und niemand, der mitten in der Fülle der Ereignisse steht, objektiv ein Urteil fällen kann, so will ich doch nicht ganz der vielmals umstrittenen Frage ausweichen, ob sich unsere künstlerische Entwicklung in aufsteigender oder abfallender Linie bewegt. Die Antwort muß vorwiegend von allgemeinen Erwägungen aus erteilt werden. Es ergibt sich hierbei sofort eine Wahrnehmung, die meiner Ansicht nach von bedeutender Tragweite ist. Es ist eine unbezweifelbare Tatsache, daß zu einer sogenannten Verfallzeit – tatsächlich gibt es eine solche bei einem Stande der Kultur, wie wir sie erreicht haben, überhaupt nicht – das Beharren bei einer glücklich gefundenen Form gehört. Die Zeugnisse, die wir uns haben geben können, sprechen im Gegensatze hierzu von kraftvollem und von unablässigem Suchen nach neuen künstlerischen Ausdrucksmitteln. Allerdings beweist emsige Tätigkeit für sich allein noch nicht, daß wirklich beachtenswerte Fortschritte gemacht werden. Der vielgeschäftige Dilettantismus ist bekannt genug, und es läßt sich sehr wohl auch für unsere künstlerische Arbeit ein hier und da etwas bedenkliches Überallhinblicken und -hingreifen feststellen, aber angesichts der Stetigkeit in der Fortführung der maßgebenden Grundlinien in der Malerei wie Plastik dürfen wir trotzalledem berechtigterweise von fruchtreichen und von fruchtbringenden Erfolgen reden. Es gehört ferner zu den Glaubenssätzen aller Kulturgeschichte, daß die Künstler am innigsten mit dem Wesen ihrer Zeit verbunden sind. Wohin wir aber in unserem Vaterlande blicken, nirgendwo macht sich das leiseste Anzeichen von faulem Genießen und Beharren geltend, sondern überall herrscht an den in Frage kommenden Stellen ein von dem klaren Wollen und der zielsicheren Kraft des Mannes geleitetes Vorwärtsdrängen zu der uns gebührenden Stellung. Und da sollten gerade die Künstler direktionslos herumirren, ausgeschieden sein aus diesem weiten Kreise zielbewußt und erfolgreich schaffender Männer? Das erscheint mir geradezu widersinnig. Es kann meiner Ansicht nach auch gar keinem Zweifel unterliegen, daß wir in ganz Deutschland sowohl über eine sehr große handwerkliche Ausbildung als auch über eine bedeutende Summe an lebenstarker künstlerischer Kraft verfügen. Unablässig werden mit der Hingabe der ganzen Persönlichkeit neue Probleme in der Malerei wie in der Plastik auf- und angegriffen, von denen eine große Anzahl schneller oder langsamer das Laienpublikum anzuziehen vermag. Auch die Tatsache, daß die Zahl der Ankäufe von Werken der bildenden Kunst in unserem Vaterlande ständig wächst, und daß sie aus den entlegensten Gegenden beordert werden, spricht für die

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/465&oldid=- (Version vom 28.9.2022)