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wird energischer als je erfaßt, darüber aber der Rankesche Gedanke des Ineinanderwirkens der Völker und Staaten, der gegenseitigen Bedingtheit der inneren und äußeren Verhältnisse des Staates keineswegs vergessen. Ihren politischen Charakter bewahrt unsere Geschichtschreibung auch damit, daß sie das Ästhetentum (etwa eines F. Naumann) überwiegend ablehnt. Der lebhafte Sinn für die politischen Bedürfnisse und Fragen der Gegenwart verbindet sich mit ernstem Streben nach Objektivität. Vielleicht ist zu keiner Zeit die Geschichtschreibung so objektiv gewesen wie heute. Diese Objektivität wird wesentlich erreicht durch die Steigerung der Erkenntnis, daß wir von allgemeinen Anschauungen, von irgendwie gestalteten Weltanschauungen abhängig sind, daß wir nicht ohne bestimmte Ideale zum historischen Urteil gelangen können, und daß unsere Ideale immer einen subjektiven Bestandteil in sich fassen werden. Wir läutern unsere Vorstellungen an unsern in stiller Forschung gewonnenen historischen Beobachtungen; aber wir bleiben uns immer dessen bewußt, daß ein letztes verbindendes Element doch nicht aus bloßer Betrachtung der Vergangenheit gewonnen wird. „Die Vorzeit“ – sagt ein neuerer Geschichtschreiber (D. Schäfer) – „kann der Lebende nur sehen unter dem Gesichtswinkel, den sein Standpunkt zuläßt; versucht er, das zu vergessen, so bleibt sein Wissen tot. Er steht unter einem gewissen Zwange, wenn er an die Vergangenheit nicht nur die Fragen stellt, die in ihr beschlossen sind, sondern auch die, die unserem Entwicklungsstande naheliegen.“ Besonders für die Auswahl des Stoffs beeinflußt uns der Komplex von Fragen und Forderungen, die die Gegenwart an uns stellt. Aber mit diesem „natürlichen Drange“ bleibt die Objektivität vereinbar, wenn wir uns eben jener Bedingtheit unserer Urteile bewußt sind. Der Erweiterung der Gesichtspunkte der politischen Geschichtschreibung, ihrer Befruchtung durch die kulturgeschichtliche, insbesondere die wirtschaftsgeschichtliche Forschung haben wir schon gedacht. Der Unterschied der älteren und der neuen Zeit tritt uns greifbar entgegen, wenn wir etwa die Aufsätze Max Dunckers, die in seinen „Abhandlungen aus der neueren Geschichte“ vereinigt sind, mit Otto Hintzes vor wenigen Jahren erschienenen „Historischen und politischen Aufsätzen“ vergleichen.

Arbeitsteilung. Zusammenfassende Darstellungen.

Wir erwähnten die große Zahl historischer Monographien aus unserer Periode. Seit Niebuhr und Ranke steht ja innerhalb der Geschichtswissenschaft die Geschichtsforschung und demgemäß die Monographie, die Untersuchung im Vordergrund. Wenn im Lauf des 19. Jahrhunderts die Zahl der monographischen Arbeiten ständig gewachsen ist, so war doch dies Wachstum bisher nie so stark wie in den letzten Jahrzehnten. Frisch eröffneter Quellenstoff, das Auftauchen neuer Probleme und die Notwendigkeit, eine These bis ins kleinste Detail auf ihre Wichtigkeit hin zu prüfen, auch das steigende Interesse für die geschichtlichen Dinge im ganzen bringen diese Fülle von Detailarbeiten hervor. Die Spezialisierung ist heute die Voraussetzung für eine erfolgreiche Förderung unserer Erkenntnis, und auf dem Wege der weitgehenden Arbeitsteilung und der Konzentrierung auf ein spezielles Gebiet ist unsere Erkenntnis tatsächlich gewaltig gefördert worden. Unsere Zeit

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/47&oldid=- (Version vom 11.5.2019)