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Aber es gehört doch Mangel an Poesie dazu, in der realistisch angreifbaren Gestalt des Rautendelein (Waldschrat und Nickelmann mag man als groteske Schöpfungen preisgeben) nur müßige Erfindungen zu sehen. Und wenn dieses märchenhafte Wesen sich enger ans Herz legt und dem Gemüte angenehmer schmeichelt als die wirklich realen Figuren – in diesem deutschen Märchendrama steckt mehr Poesie, als in hundert regelrechteren und die wirkliche Welt gesetzmäßiger darstellenden Werken.

Keine der späteren Dichtungen läßt sich mit diesen früheren vergleichen. Manche beweisen den störrischen Eigensinn des in seltsame Theorien Verrannten, oder die auch dem Genius nicht erlaubte Manier, dem Genießenden Unverständliches oder Abstruses zuzumuten; manche andere, „Fuhrmann Henschel“ (1898), „Rose Bernd“ (1903), die wiederum in schlesischem Boden wurzeln, bieten nur neue Nuancen, aber keine neue Art. Aber die meisten legen Zeugnis ab von einem außerordentlichen Können; sie bekunden eine Wucht der Sprache, eine Kunst der Beherrschung der Massen, eindringlichste Charakteristik und geben Zeugnis von so unendlich reichen Gaben, wie sie kein anderer Lebender aufweist.

Seit kurzem sucht sich Hauptmann als Regisseur des neuerstandenen „Deutschen Künstlertheaters“ zu bewähren; teilweise mit großem Glück, wenn auch mit einer Modernität, die des allgemeinen Beifalls nicht würdig ist und mit einer gewiß tadelnswerten Willkür den Größten, wie Schiller, gegenüber.

Sein letztes Werk „Festspiel in deutschen Reimen“, das in der Lesewelt ungeheuer verbreitet ist (es liegt schon die 16. Auflage vor), hat viel Staub aufgewirbelt. Gewiß ist es kein patriotisches Festspiel, überhaupt kein Drama, vielmehr eine Art Puppenspiel in bunten Szenen und Einzelreden. Zudem so voll von Satire und Anspielungen, daß es nur geschichtlich Hochgebildeten verständlich ist. Es ist bedauerlich, daß einem solchen Werke gegenüber kleinliches Gezänk der Parteien laut geworden ist, und daß seine Geschicke von einem anderen als ästhetischen Standpunkt aus vollzogen wurden. Man könnte mit dem Dichter rechten, daß er Schillers prophetische Stimme nicht ertönen ließ und daß er Goethe gar nicht erwähnte, den man nun glücklicherweise aufhört, unpatriotischer Gesinnungen zu bezichtigen. Wenn man aber wiederum mehr von politischem als von ästhetischem Standpunkte aus gesagt hat, das Spiel sei eine Verhöhnung Deutschlands und eine Verherrlichung Frankreichs, so ist das eine grobe Verkennung; denn Napoleon erscheint in ihm in einer sehr fragwürdigen Größe, Friedrich der Große dagegen als Vorbereiter für eine große Zukunft. Und auch die Art, wie Stein, Gneisenau, Jahn, Kleist, vor allem Fichte, charakterisiert werden, wie die Weltbürger, die Engländer, die kleinmütigen und großmäuligen Philister sich geben, wie die großen Gedanken: die Reformation, die Freiheitsbewegung, die Fridericianische Tradition verteidigt und als Bürgschaft für eine neue große Zukunft hingestellt werden, ist eines wahrhaften Dichters würdig. Neben schlimmen prosaischen Stellen und entsetzlichen Reimen wunderbar poetische Partien. Gegenüber undramatischen Ungeheuerlichkeiten dramatische Einlagen von außerordentlicher Kraft, z. B. die Szene der Mütter, die ihre Söhne reklamieren. Gewiß wäre es besser gewesen, an das Ende statt des Einschließens Blüchers in die Totenkiste die schönen Worte der Athene-Deutschland zu setzen:

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1628. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/499&oldid=- (Version vom 20.8.2021)