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Zwei neuere Stücke verdienen eine besondere Hervorhebung.

Von vollendeter Anmut ist das zierliche Spiel „Die Zwillingsschwester“ (1901), von einer Zierlichkeit, die an italienische Vorbilder gemahnt und doch volle Originalität wahrt. Das in Italien in der Renaissancezeit spielende Lustspiel ist geschickt aufgebaut wie Giuditta, die eine Zeitlang ihre ihr außerordentlich ähnliche Zwillingsschwester Renata vorstellt, ihren lau gewordenen Gatten Orlando sich zurückerobert und wie Renata kraft ihrer Ähnlichkeit mit Giuditta den der letzteren in innigster Freundschaft ergebenen Maler Valla für sich gewinnt. Selbst die Abweisung eines trunkenen Gecken, die Schilderung eines Bauerntölpels, kleine Entgleisungen des Orlando mit einer Zofe neben seinem Hauptabweichen, das darin besteht, daß er sich in seine angebliche Schwägerin verliebt, sind so gezeichnet, daß das Stück niemals etwas von seiner keuschen Grazie verliert.

Der Dummkopf (Stuttgart 1907) ist ein feines geistreiches Lustspiel, das auf einer witzigen Idee beruht und das, wenn es auch konventionell genug mit einer von Anfang an ziemlich durchsichtigen Heirat schließt, nicht zu dem alten Eisen geworfen werden darf. Ein Bankbeamter, von einem entfernten Verwandten als Universalerbe eingesetzt – als der dümmste, wie er meint – verzichtet auf diese Erbschaft zugunsten dreier Vettern, wird von diesen schlecht behandelt und soll in eine Irrenanstalt gesteckt werden. Er wird aber von dem Irrenarzt und von einer reichen Amerikanerin, die vorher die drei Vettern hatte abblitzen lassen, als großes, unselbständiges und allzu ideal gesinntes Kind geschätzt und von der Amerikanerin geheiratet. Das wird in raschem Tempo, in lebhafter, korrekter Sprache, in einer trotz mancher Wunderlichkeiten glaubhaften Weise mit prächtigen satirischen Zügen dargestellt und erregt durch den Triumph und durch die Nasführung der geistigen Klüglinge Behaglichkeit und Erheiterung.

Alte Richtungen.

Neben den Werken dieser vier Männer, Hauptmann, Sudermann, Wildenbruch, Fulda, welche sich in unserem Zeitraum die Bühne beherrschten, ohne den Spielplan eines Theaters ganz auszufüllen, hat sich die Vertretung vieler alter Richtungen erhalten. Das dem Französischen nachgeahmte Sitten- oder vielmehr Unsittendrama: Ehebruch und leichte Männersiege ruft immer neue Fortsetzungen hervor, in unendlich vielen Abarten mit immer größerer Leichtfertigkeit, und ergötzt ein unterhaltungslustiges und nach immer stärkeren Kitzeln dürstendes Publikum; die alte Berliner Posse, ebenso die derben Dialektspäße befriedigen breite Schichten.

Ohne auf die Vorführungen des Metropoltheaters und anderer Bühnen einzugehen, in deren Repertoire man von dramatischer Entwicklung überhaupt nicht sprechen kann, und in denen Ballette, Dekorationskunststücke und das Auftreten einzelner beliebter Komiker und Soubretten die Menschen hauptsächlich zum Besuch jener „Kunststätten“ veranlassen, sei nur mit einem Wort darauf hingewiesen, daß in manchen Possen, in denen natürlich neuere Erfindungen ausgenutzt werden („Filmzauber“) außer dem üblichen „höheren Blödsinn“ auch Keime wirklich zugkräftiger Komik enthalten sind. Solche Stücke brachten und bringen es in Berlin zu Hunderten von Vorstellungen und werden in der Provinz gern gesehen und eifrig belacht. Mit wirklicher Literatur haben sie nichts zu tun; sie deswegen in Bausch und Bogen zu verdammen, wäre Unrecht. Gewiß soll die

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1631. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/502&oldid=- (Version vom 20.8.2021)