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Zeit hat auch eine österreichische Dichterschule, nicht bloß durch die Masse, sondern durch den inneren Wert ihrer Produktionen, berechtigtes Aufsehen gemacht. Als ihre Hauptvertreter mögen Schnitzler und Bahr gelten.

A. Schnitzler.

Arthur Schnitzlers Domäne ist die Schilderung des mondänen Wiener Lebens der sog. höheren Stände mit seiner liebenswürdigen Leichtfertigkeit und seiner abschreckenden Häßlichkeit. Der ersteren Art gehören die anmutigen „Anatol“, „Liebelei“, der letzteren die Tragikomödie „Das weite Land“ an: die Darstellung einer Gesellschaft, der nichts heilig ist, in der Ehebruch ein Pflichtgebot scheint, wo der einzig wirklich anständige Mensch von dem frivolsten Genußmenschen niedergeknallt wird, der den traurigen Mut besitzt, nach diesem Mord – denn das ist es fast mehr als ein Duell – der nichtsahnenden Mutter die Hand zu reichen und den sog. Heroismus, ein junges Mädchen von sich zu weisen, das sich ihm ergeben hatte und ihn in seine Verbannung begleiten will.

Schnitzler besitzt eine geradezu verblüffende Charakteristik und verfügt über einen blendenden geistreichen Dialog, in dem neben manchen Banalitäten Tiefgedachtes geistreich ausgeführt wird. Auch das „Zwischenspiel“ wird als eine Tragikomödie bezeichnet, ist aber mehr eine bürgerliche Tragödie, der ernste Kampf zweier Künstlernaturen, die sich freigeben möchten und doch voneinander nicht lassen können.

Schnitzler hat außerdem im „Grünen Kakadu“ ein farbenprächtiges Bild der französischen Revolution und in „Professor Bernhardi“ eine die antisemitische Bewegung in wissenschaftlichen Kreisen Österreichs charakteristisch porträtierende Zeichnung gegeben mit ungemein sprechenden, photographisch wirkenden Bildern von Gelehrten und Staatsmännern.

„Der Schleier der Beatrice“ fällt aus diesem Rahmen vollständig heraus. Es ist ein vielgestaltiges, farbenprächtiges Renaissancedrama, das die plötzlich entflammte Liebe der schönen Beatrice Nardi zu dem Dichter Filippo Loschi, beider Tod, die Vereinsamung des Herzogs von Bologna, der Beatrice zu seiner Gattin erkoren und sie gleich verloren hat, schildert. Schöne Verse, gründliche Kenntnis einer sinnesfrohen, kunstschwelgenden, im Angesicht des Todes zum Genuß taumelnden Zeit machen das Werk zu einem reizvollen historischen Gemälde.

H. Bahr

Hermann Bahr ist ein Heimats- und Altersgenosse Schnitzlers; sein 50. Geburtstag ist kürzlich mit allem Pomp gefeiert worden. Mit Schnitzler teilt er das Österreichische, die dramatische Lebendigkeit, das Witzvolle und Geistreiche, nur ist er derber, moderner, vielseitiger und scheut vor keiner Verwegenheit zurück. Bevor er sich dem Drama ausschließlich ergab, hatte er als Journalist, Theater- und Kunstkritiker gewirkt; der Journalton ist für seine Dramen einflußreich geworden, und seine große Kenntnis der Theaterliteratur verführt ihn zu einer Verwertung tausendfältiger Reminiszenzen. Er tischt alte Probleme auf, ohne sie lösen zu wollen, wie etwa im „Star“: die plötzlich erwachte Zuneigung einer Primadonna zu einem kleinen Beamten, in dem sie die „große Liebe“ entzündet zu haben glaubt

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/506&oldid=- (Version vom 20.8.2021)