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verführt, die Selbstaufopferung für die kranke Mutter aufschiebt oder geradezu bereut und sich ihres Gelübdes erst wieder inne wird, nachdem sie erkannt hat, daß der Bursche nur aus Zeitvertreib mit ihr gespielt hat.

Historische Stücke.

Schnitzlers „Schleier der Beatrice“ war ein historisches Stück. Das naturalistische Drama schien nicht bloß mit den Jambentragödien, sondern mit geschichtlichen Stücken überhaupt aufgeräumt zu haben. Mit dem Parteirufe: Gegenständlichkeit, Beobachtung des wirklichen Lebens, Berücksichtigung der Aufgaben und Ziele der Gegenwart wollte sich die Versenkung in eine ferne, entlegene Zeit nicht vertragen. Als aber Hauptmann mit diesem Dogma durch seinen „Florian Geyer“ brach, verstummte der Parteiruf, und insbesondere ward von Wildenbruch (vgl. oben) eine verschwundene Epoche auch auf der Bühne neu belebt. Die anderen folgten. Und zwar wurde zunächst die Antike aus dem Staube, in den sie verhüllt schien, gezogen. In doppelter Weise. Antike Stücke, selbst Lustspiele, wurden in alter Weise in Masken vorgeführt; andererseits (das Theater der Fünftausend) wurden die großen Tragödien des Sophokles in Räumen, die sonst der Pferdekunst und -dressur galten, dem Publikum vermittelt. Trotz des unheiligen Ortes übten einzelne Trauerspiele des Sophokles unter Reinhardts feinfühliger Leitung einen großen Eindruck aus.

Antike.

Man begnügte sich indeß nicht mit der Wiederbelebung der Antike, sondern suchte auch antike Stoffe neu zu bearbeiten. Auch hierbei kann man, so unwillig die Modernen solches Herbeiziehen auch von sich abwehren, das Beispiel der französischen Dichter: Corneille, Racine, Voltaire und ihrer Nachläufer in Deutschland anführen. Die antiken Helden der Franzosen nämlich sind trotz peinlicher Wahrung der alten Sage moderne Menschen oder Alte mit modernem Einschlag. Sie deklamieren und empfinden wie Menschen des 17. Jahrhunderts. So kann man auch von vielen Versuchen deutscher Dichter, sich in antike Stoffe zu versetzen, sagen, daß hier modernes Empfinden stark, ja ungebührlich hervortritt.

Daher sind manche Versuche, sich mit dem Altertum auseinanderzusetzen, nicht sehr erfreulich.

H. v. Hoffmannsthal.

Hugo v. Hoffmannsthal, für dessen Lyrik ich kaum ein Organ besitze, weil mir seine Willkür in Worten und Metren unverständlich erscheint, hat vieles Lyrische auf das Drama übertragen. Seine kleineren Dramen sind im Grunde nur lyrisch: Stimmungsbilder und Situationen. Er weiß zu rühren, aufzuregen, nicht zu erschüttern. Es ist nur ein Wühlen in Grausamkeiten, wenn er in „Die Frau im Fenster“ die ungetreue, den Liebhaber erwartende Dialora von dem rachsüchtigen riesenstarken Mann ertappen, alle Phasen der Todesfurcht durch ihr Geplapper durchschimmern läßt, bis dann endlich die Ermordung der jungen schönen Sünderin erfolgt. In seinem gewagten Spiel „Der Tod und der Tor“, hat er die Kühnheit, außer dem Tode selbst drei Gestorbene auftreten zu lassen. Hier kann man sehen, wie weit ein Nachahmer hinter dem Schöpfer zurückbleibt. (Auch Hauptmann

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1638. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/509&oldid=- (Version vom 20.8.2021)