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hat in „Hanneles Himmelfahrt“ den Tod auftreten lassen, aber er bleibt fast durchaus stumm. Auch er läßt Verstorbene erscheinen, aber in einem Traumbild; dadurch erzielt er erschütternde Wirkungen, während Hofmannsthal durch diese künstliche Belebung der Toten nur wenig schauerlich wirkt, im Grunde den Zuschauer kalt läßt. Bei Hauptmann gestaltet sich die Szene trotz des Traumes zu einem erschütternden Drama, bei Hofmannsthal kommt es im Grunde nicht über eine lyrische Szene, über eine Art Monodrama, hinaus). Der Tor, der nicht an den Tod glaubt, der nichts erlebt, nichts begangen zu haben meint und der nun nach der Erscheinung seiner Mutter, seiner Geliebten, seines Freundes, denen allen er Kummer bereitet und Herzeleid angetan hat, als ein für das Ende Reifgewordener erklärt wird, übrigens liegt in diesem Stück vielleicht schon der Keim zu dem Spiele „Jedermann“, das vor einigen Jahren durch Reinhardt, mit allen erdenklichen Regiekünsten ausgestattet, im Zirkus aufgeführt wurde. Aber dieses sog. moderne Stück, eine Nachdichtung eines alten, besonders in der Reformationszeit beliebten Stoffes ist nichts weniger als eine dichterische Großtat, sondern ein verschwommenes katholisierendes Epos, das nur den Gemeinplatz illustriert, daß beim Nahen des Todes alle sog. guten Freunde den durch die Hippe Bedrohten verlassen, auch die gerechten Taten, daß selbst die Liebe ihre Kraft verliert und daß höchstens die Muttertreue aushält. Selbst der in einigen früheren Stücken für manches Ohr, nicht für das meinige, verführerische Klang Hofmannsthalscher Verse ist hier einer öden, altertümliche Sprechweise nachahmenden, nicht wirklich sprachbildenden Reimerei gewichen.

Von Hofmannsthals Nachbildungen und Nachahmungen der Antike sind besonders zwei hervorzuheben: König Ödipus und Elektra.

Der König Ödipus ist etwas ganz anderes, als der Titel zu verheißen scheint. Denn wie lernen nicht Ödipus in seiner Macht kennen, sondern im Aufsteigen zu dieser Macht, nicht in seinem Walten als König, sondern nur bis zu dem Moment, in welchem er den Thron seines Vaters besteigen soll, seines Vaters, von dem er gar nicht weiß, daß es sein Vater ist. Schöne grandiose Szenen finden sich in dem Stück: die Ermordung des Vaters, der Tod des Knaben des Kreon; erhabene, in ihrer Größe und Düsterheit ergreifende Charaktere wie Antiope, die Mutter der Jokaste. Aber das Ganze ist, um nicht zu sagen verfehlt, jedenfalls absolut unantik, hypermodern, den antiken Vorstellungen entgegengesetzt. Wohl begreifen wir bei der Gewalt der Orakel und dem Vorherrschen der Schicksalsidee, wie Ödipus der allgemeinen Meinung folgt, daß er, der die Sphinx besiegt hat, die Königin heiraten und Herrscher werden soll. Aber wir vermögen einen mit modernem Empfinden ausgestatteten Menschen nicht zu begreifen, wie er, dessen Seele belastet ist mit dem grauen Spruch, er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten, fast unmittelbar, nachdem er wiederholt sein Sehnen ausgedrückt hat, unerkannt zu bleiben und zu sterben, sich in gefährliche Abenteuer einläßt und, von der Schönheit der Königin ergriffen, in einen Liebesparoxismus gerät. Wir verstehen es wohl, daß eine Königin des Altertums stumm und gelassen dem Volkswillen sich fügt und den um mehr als 20 Jahre jüngeren Mann, einen kaum ausgereiften Jüngling, zum Gatten nimmt. Aber wir begreifen nicht, wie eine Frau modernen Empfindens, nachdem nicht etwa ein Trauerjahr vergangen ist, sondern noch die ersten Trauerwochen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1639. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/510&oldid=- (Version vom 20.8.2021)