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nicht vorüber sind, von einer hysterischen Liebesglut ergriffen, dem siegreichen Jüngling eine Liebeserklärung macht, daß sie nach den entsetzlichen Erfahrungen, die ihr mit ihrem ersten Kinde zuteil geworden, und nachdem sie ihre spätere Unfruchtbarkeit wiederholt gesegnet hat, plötzlich keinen brennenderen Wunsch kennt, als durch den Geliebten Mutter zu werden, und daß das alternde Weib, obgleich sie bei dem ersten Anschauen des Ödipus bekannte Züge in ihm zu sehen meint, irgendwelche Bedenken nicht aufkommen läßt, die ihr das Verbrechen, das zu begehen sie im Begriffe ist, schaudernd enthüllen würden. Der antike Dichter, der solche furchtbaren Ereignisse erzählt, bedurfte keiner psychologischen Erwägung, weil er eben nur die alte Sage treu wiedergab, der moderne, wenn er einen solchen Stoff wählte, durfte sich nicht mit einem neumodischen Mäntelchen begnügen, sondern mußte die Sage von Grund aus umgestalten. Einzelne Hauptszenen: die Selbstvernichtung der Sphinx sind zwar wortreich, aber weder anschaulich noch verständlich; Kreon ist ein Polterer und Schwätzer, der, wo er reden sollte, schweigt und wo er schweigen müßte, das große Wort führt. Warum er Ödipus zu der Stätte begleitet, wo die Sphinx haust, bleibt völlig unverständlich, fast so unbegreiflich wie der Umstand, daß er, da Ödipus ihm den Dolch aufdrängt, um ihn zu ermorden, die letzte Gelegenheit vorübergehen läßt, sich des unbequemen Nebenbuhlers zu entledigen. Das ist nicht antike Größe und nicht moderne Entsagung, sondern ein wortreiches Gerede, das weder in den Umständen noch in dem Charakter des Handelnden begründet ist.

Ist Jokaste das hysterische Weib, so ist Elektra (in dem gleichnamigen Drama Berlin 1904) das perverse. Auch dieses Drama ist unantik, ohne dadurch modern geworden zu sein. Diese zur Megäre gewordene Tochter, die ihre Mutter, die Mörderin des Vater haßt, den Bruder sehnlich erwartet, als den natürlichen Ausführer der Rache und die, da er nicht erscheint, ja, sogar totgesagt wird, selbst entschlossen ist, zum Morde zu schreiten, würde sie nicht an der Ausführung ihres Planes schließlich durch das späte Erscheinen des Orest gehindert, würde uns verständlich sein, wenn sie stumm hinbrütend, bloß im Momente der höchsten Gereiztheit den Mund öffnet. Aber dieses Schwadronieren mit sich selbst, dieses ironische, von Witz durchzuckte Wortgeplänkel mit ihrer Mutter, die Anklänge von Perversität in ihren schwülen Gesprächen mit der Schwester Chrysothemis und die dunkle Andeutung der eigenen Beflecktheit stören den erhabenen Eindruck, den sie als menschliche Rachegöttin machen müßte. Wohl finden sich auch hier Stellen von elementarer Kraft, Angstschreie von berückender Macht in den Verzweiflungsreden der von Träumen verfolgten Klytämnestra, aber das Ganze gestaltet sich doch nicht zu eine psychologisch begreiflichen Drama. Denn Ägist ist der konventionelle Dutzendbösewicht, dessen Einfluß auf die ältere Frau, die Mutter erwachsener Kinder, kaum zu begreifen ist; gerade hier wäre es die Aufgabe des Dichters gewesen, die dämonische Kraft zu zeigen, die von dem Verführer ausgeht. Die sündige Lust, das Mannstolle in der Seele des Weibes, das, wenn es auch in der Erinnerung an das vollführte Verbrechen schaudert, doch so tief in das erotische Lustgefühl verstrickt ist, daß ihr Schauder und ihre Reue nur eine halbe bleibt, weil sie von dem Lärm des Liebeswahnsinns übertönt ist.

Fortbildung der antiken Sage, feines, psychologisches Erfassen bei manchen einzelnen poetischen Schönheiten verrät Ernst Rosmers Tragödie „Nausikaa“ (Berlin 1906).

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1640. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/511&oldid=- (Version vom 20.8.2021)