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Schriftstellers, die endlich im schrecklichsten Elend sich allerlei Gesindel von der Straße aus in ihre Spelunke holt (auch das wird im einzelnen beschrieben), bis sie schließlich von einem dieser Rohlinge ermordet wird, – diese widerwärtige, verbuhlte, gefühllose Dirne löst in der Seele des Lesers und gewiß auch des Beschauers kein Grauen aus, kein tragisches Entsetzen, sondern nur Widerwillen und Ekel. Widerwärtige, nicht bloß jeder Moral, sondern jedem künstlerischen Geschmack hohnsprechenden Szenen sind wirr aneinandergehäuft: geile Männer und Frauen, perverse Dirnen, Abenteurer und Mädchenhändler kommen auf die Szene; die Sprache einzelner Personen, namentlich die des Artisten und die des Alten, der als Vater der Heldin das Buch durchzieht, aber dies schwerlich ist, wenn er nicht etwa mit seiner Tochter in unnatürlichem Verhältnisse steht, ist so gassenmäßig und bordellartig, daß man nicht bloß etwa im Namen der Kunst und des Anstandes, sondern im Namen echter dramatischer Kunst gegen solche angeblich theatralischen Produkte entschiedene Verwahrung einlegen muß.

Den Gipfel ersteigt er jedenfalls in dem sog. Mysterium „Franziska“ (München 1913). Was dieser tolle Spuk mit Satiren auf das Versicherungswesen, auf Politik, Literatur, Frauenemanzipation und Herrenmoral bedeuten soll, verstehe ich absolut nicht. Perversitäten aller Art, Geistererscheinungen usw. machen das Stück weder verständlicher noch anmutiger. Es bleibt unbegreiflich, daß sich ein Theater zur Aufführung eines solch völlig undramatischen und kraftlosen Machwerks herbeiläßt, in dem zwar viel Geist neben grenzenloser Willkür waltet, von einer Handlung aber eigentlich gar nicht gesprochen wird, sondern nur zusammenhanglose Bilder mit fratzenhaften Gestalten an dem Leser und dem Zuschauer vorbeirauschen.

Schluß.

Es ist ein literaturgeschichtlicher Irrtum, zu wähnen, jede neue Richtung müsse etwas bedeuten, jedes dramatische Produkt sei ernst zu nehmen. Wie Ludwig Thoma, der gewiß kein Zurückgebliebener ist, auf die Frage: „Welchen Eindruck machen auf Sie die Schöpfungen der neusten Kunstrichtung?“ ganz neuerdings die Antwort erteilte: „Keinen“. Und auf die weitere Frage: „Glauben Sie, daß in diesen Dichtungen die Zukunft der deutschen Kunst liegt?“ klipp und klar erwiederte „Nein“, so darf auch der literarische Kritiker sich gegen die Symbolisten, ihr Gefolge und ihre Verwandten gegen die „Neuesten, die sich erdreisten“, einfach ablehnend verhalten; er darf gestehen, daß diese Schöpfungen auf ihn keinen Eindruck machen, und daß er in ihnen keine Zukunft der deutschen Schauspielkunst sehen kann. Vielleicht gibt die Zukunft dem Kritiker unrecht und den Strebenden recht, dann schade um die Zukunft!

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/521&oldid=- (Version vom 20.8.2021)