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aber auch, wo sie der Ausdruck des öffentlichen Lebens sind, kommen sie uns zu wenig zum Bewußtsein, als daß wir dieses an ihnen ablesen und messen könnten. Und so fehlt uns zur Bestimmung und Beschreibung des öffentlichen Lebens im deutschen Staat gerade die Hauptsache, der Nomos als Gesamthintergrund und -untergrund und die Möglichkeit ihn zu fassen und in Worte zu kleiden. Deshalb sind wir auf bloße Symptome, auf Merkzeichen und Ausdrucksformen angewiesen; es fragt sich nur, wo wir sie zu suchen haben und ob wir sie finden.

Der Partikularismus keine Macht mehr.

Vielleicht führt uns aber gerade das, was uns fehlt, hinüber zu dem, was wir suchen. Unsere Sitte ist auch deshalb keine einheitliche, well unser Volk ein vielfach zerspaltenes und geteiltes, von allerlei Gegensätzen durchzogenes ist. Die Teilung des deutschen Volkes in verschiedene Stämme, der Trennungsstrich der Mainlinie zwischen Nord und Süd hat einst als staatlicher Partikularismus die Politik und das ganze öffentliche Leben unheilvoll genug beeinflußt. Allein heute ist das ein in der Hauptsache überwundener Standpunkt: der Partikularismus ist keine Macht mehr unter uns, höchstens an den Rändern des Reichs ist er noch stärker ausgeprägt und hat hier einen „nationalistischen“ und eben deshalb einen bösartigen Nebengeschmack. Da und dort zittern noch alte Reminiszenzen pietätvoll nach oder werden alte Scheltworte gebraucht; aber es ist eine das öffentliche Leben kaum mehr beeinflussende Sentimentalität, und der Zorn, der sich so lautscheltend äußert, klingt mehr witzblattartig als ernsthaft. Uns als Deutsche und als Schwaben oder als Bayern zugleich zu fühlen, das haben wir in den 42 Jahren, seit das Reich steht, gelernt; und das große Problem, wie sich speziell der Führerstaat Preußen zu Deutschland verhalte, beschäftigt mehr den feinsinnigen und in die Tiefe bohrenden Historiker, als den praktischen Politiker. Auf der anderen Seite wissen wir alle, wie der Partikularismus, der für unsere politische Entwicklung ein Problem und eine Klippe gewesen ist, kulturell unser deutsches Leben bereichert hat und täglich noch reicher macht. Berlin ist nicht wie Paris die geistige Hauptstadt des Deutschen Reichs, die die andern verschlingt; und diese Mehrheit von kulturellen Mittelpunkten in den deutschen Großstädten und Residenzen verhindert Eintönigkeit und geistiges Uniformtragen und erhält den Wetteifer der verschiedenen Stämme und Staaten in erfreulicher gegenseitiger Spannung.

Die religiösen Gegensätze.

Größer und gefährlicher als die staatlichen sind heute die religiösen Gegensätze. Im protestantischen Teil unseres Volkes war Jahrhundertelang die Lutherbibel der gemeinsame Kodex einer für alle, Gebildete und Ungebildete, gleich gültigen Lebensanschauung, unsere Sittlichkeit ruhte auf dieser gemeinsamen religiösen Grundlage, auf der inhaltlich ja ebenso auch der katholische Teil stand. Und das machte sich dann im öffentlichen Leben als Verständigungsmittel hin und her geltend. Nun ist unser Volk gewiß auch heute noch religiöser, als es dem oberflächlichen Blick oft scheinen möchte. Allein die Einheit und Einheitlichkeit im Religiösen ist doch weg, wir sind zerrissener als

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1655. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/526&oldid=- (Version vom 4.8.2020)