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dieser Versammlungen sei „ein großes, die Bürger vorzüglich bildendes Schauspiel und das Volk lerne daran am meisten das Wahrhafte seiner Interessen kennen; erst hier entwickeln sich Tugenden, Talente, Geschicklichkeiten, die zu Mustern zu dienen haben.“ Dieser Wert geht verloren, wenn die Hauptsache sich hinter den Kulissen, in verschlossenen Kommissionsberatungen abspielt. Und damit hängt wohl auch der Modus unserer Reichstagsverhandlungen zusammen, daß die paar Stimmführer stundenlange Reden halten, durch die sie nicht ihre Hörer überzeugen wollen oder überzeugen zu können glauben. An die Stelle der Debatte, des διαλέγεσθαι ist das Zum-Fenster-Hinausreden getreten. So hat die Stimme des einzelnen kein Gewicht, es kommt nicht an auf das, was er sagt, und daß er etwas sagt, höchstens noch darauf, daß er bei der Abstimmung zur Stelle ist; auch im Reichstag ist alles Partei; und auch die Partei berät und beschließt hinter geschlossenen Türen; wenn öffentlich geredet wird, ist alles schon fertig, und ob einer mit Menschen- oder mit Engelzungen redete, auf die Beschlüsse hat das keinen Einfluß mehr, die Abstimmung ist für den einzelnen Abgeordneten in allen wichtigen Fragen parteimäßig festgelegt und obligatorisch; daher wollen so viele selbständige Menschen nicht in den Reichstag und kommen die selbständigen Parteilosen dort nicht zur Geltung. So sind die Parteien die eigentlichen Träger des öffentlichen Lebens, nicht die einzelnen, oder sie nur soweit, als ihr Einfluß in der Partei und auf die Partei reicht. Darin liegt so etwas wie ein Widerspruch. Das Parlament ist der Idee nach die Elite der Nation, eine aristokratische Auslese hervorragender einzelner, die – das liegt schon im Worte „Parlament“ – reden und raten sollen; in Wirklichkeit tauchen aber diese einzelnen alsbald wieder gut demokratisch unter und gehen auf in der Fraktion, sie reden nicht, um zu raten, sondern nur um zu reden, und deswegen reden die meisten überhaupt nicht, sondern stimmen nur ab, sie sind nicht etwas als einzelne, sondern etwas nur als Mitglieder ihrer Partei und als eine Stimme mehr.

Die Presse. Ihre Aufgaben.

Ähnlich und doch anders steht es um die Presse, in der das öffentliche Leben noch allseitiger und lauter zur Aussprache kommt als in den Reichs- und in den verschiedenen Landtagsverhandlungen, so daß sie heute bei dem geradezu fabelhaften Aufschwung des Zeitungswesens in Deutschland recht eigentlich das Spiegelbild und das Sammelbecken ist für alles, was zum öffentlichen Leben gehört und in ihm, ponderabel oder imponderabel, mitschwingt und pulsiert. Die Zeitung ist freilich ein Gemisch von Öffentlichem und Privatem und steht ebenso im Dienste des einen wie des andern. Der Anzeigeteil, auf dem das Zeitungsgeschäft vor allem beruht und aus dem die Zeitung den Hauptteil ihrer Einkünfte bezieht und ihre Herstellungskosten zu zwei Dritteln und mehr deckt, regelt als größte Arbeitsnachweisstelle zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern Nachfrage und Angebot. Man darf ja nur zusehen, wie beim Erscheinen der neuesten Nummer eines großen Annoncenblattes die Stellensuchenden bienenschwarmartig sich um die Ausgabestelle drängen, um als erste die Nummer zu erhaschen und dadurch auch als erste Bewerber zur Stelle sein zu können. Auch die Reklame hat neben dem Plakatwesen, das unsere Städtebilder so abscheulich verunstaltet und gegen seine marktschreierische

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/533&oldid=- (Version vom 4.8.2020)