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durch Bilder in unserer kinematographentollen Zeit gesteigert wird, macht sich deutlich spürbar und fordert und findet immer mehr Nahrung und Stoff. Und auch dadurch kann hier geschadet werden, daß das berichtete Sensationelle zur Nachahmung reizt und suggestiv wirkt, geradezu geistige Epidemien hervorruft: man denke an die zu gewissen Zeiten sich häufenden Schülerselbstmorde oder an die gewöhnlich rasch aufeinanderfolgenden gleichen oder ähnlichen Verbrechen besonderer Art. Auf der andern Seite ist das alles aber auch im öffentlichen Interesse notwendig und nützlich zur Unterstützung von Polizei und Gericht bei der Entdeckung von Verbrechen und der Fahndung auf Verbrecher oder beim Aufsuchen von Verlorenem und von Verlorenen, und notwendig auch zur Weckung eines „vielseitigen Interesses“, das nach Herbart Grundlage und Zielpunkt aller Bildung ist.

Endlich die Hauptsache – die politischen Nachrichten. Was wären, um damit zu beginnen, die öffentlichen Verhandlungen des Reichstags, ja jedes größeren Stadtparlaments ohne die Presse? Das gesprochene Wort verhallt im engen Raum eines noch so großen Saales, ein paar Leute hören den Redner oder hören ihn auch nicht, fassen manches von dem, was er sagt, falsch auf und vergessen das Meiste und das Beste, es ist gleich darauf, als wäre es nie gewesen. Erst die Presse gibt dem gesprochenen Wort Dauer, den weiten Hörerkreis und die nötige Resonanz und macht die paar, die in der Elite der Erwählten selbst wieder als Sprecher eine Elite bilden, nun erst zu Führern des Volkes. Man sehe nur zu, wie bei einem Streik der Journalisten sich die Reichstagsredner verloren vorkommen und die politisch interessierten Menschen alle darben. Und auch abgesehen von solchem gelegentlichen, absichtlichen oder unabsichtlichen Versagen ist die Kunst des Totschweigens in der Presse kaum weniger ausgebildet als die des Mitteilens, und sie ist für den Totgeschwiegenen meist die schlimmste Art des Boykotts; denn wenn der Betroffene dagegen protestiert, so hat er neben dem Schaden für den Spott nicht zu sorgen. So zeigt die Presse hier schon ihre Macht: ohne sie ist der einzelne für das öffentliche Leben so gut wie nicht vorhanden, ein Mann der Öffentlichkeit wird man heute nur durch sie.

Aber nicht nur referieren will die Presse über das, was im Parlament oder in Volksversammlungen gesagt wird und was Politisches in der Welt, im Inland oder Ausland vorgeht, sie urteilt auch darüber, lobt, tadelt, empfiehlt, bekämpft, spottet und klagt. Teilweise liegt, wie eben angedeutet, ein Urteil schon in der Auswahl dessen, was sie mitteilt. Denn wie jede Geschichtschreibung dadurch subjektiv ist, daß sie nicht alles berichtet und berichten kann, was geschehen ist, sondern nur das, was der Historiker für wichtig und wesentlich hält, und wie sie dadurch aristokratisch ist, daß sie nur das Bedeutende und Große auf ihren Blättern verzeichnet und das ewig Gestrige als Spreu durch ihr großes Sieb durchfallen läßt und ausscheidet, so und noch viel mehr ist auch die Presse subjektiv und – wenigstens der Idee nach – aristokratisch. Und zwar scheidet sie aus und urteilt sie von einem bestimmten politischen Standpunkt aus, der meist ein mehr oder weniger ausgesprochener Parteistandpunkt ist. Darum ist das Urteil, das die Presse abgibt, wie die Auswahl, die sie trifft, nichts Allgemeingültiges, sondern ein Parteipolitisches. Diese Einseitigkeit wird einigermaßen dadurch korrigiert, daß jede Partei und vielfach sogar

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/535&oldid=- (Version vom 12.12.2020)