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Daß der Presse nach wie vor gewisse Schranken gezogen sind, einerseits der einzelne nicht von ihr verleumdet und beleidigt und andererseits das Volk im ganzen oder einzelne Klassen desselben nicht zu Gewalttätigkeit irgendwelcher Art aufgehetzt werden darf, versteht sich von selbst. Auch Bestimmungen gegen den Verrat wichtiger, namentlich militärischer Landesgeheimnisse dürfen nicht fehlen. Nur soll das alles nicht zu kautschukartig und dehnbar sein und so die Presse nicht unter dem Druck und der Angst vor dem Damoklesschwert stehen müssen, das jeden Augenblick auf sie niedersausen kann. Aber eben aus der weitgehenden Freiheit, die ihr gewährt worden ist und ihren gewaltigen Aufschwung erst möglich gemacht und herbeigeführt hat, sind ihr auch neue und besonders große und schwere Pflichten erwachsen; denn je größer die Freiheit, desto leichter, aber auch desto gefährlicher der Mißbrauch und das Auswachsen der Freiheit zur Schrankenlosigkeit und zur Zuchtlosigkeit. Der Dienst der Freiheit ist ein schwerer Dienst, sagt Uhland mit Recht.

Noch auf eine Gefahr ganz anderer Art sei hier hingewiesen, die auch öffentliches Interesse hat – auf die Verderbnis unserer Sprache und unseres Stils durch das Zeitungsdeutsch. Daß ein guter Journalist einen guten, ein großer Feuilletonist sogar einen glänzenden Stil schreiben soll und daß viele unserer Journalisten darin ganz Vortreffliches leisten, wissen wir alle. Aber auf der anderen Seite macht die Notwendigkeit, rasch zu produzieren und zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, in Stimmung oder Nichtstimmung zu schreiben, um die Spalten des Blattes täglich auf die Stunde zu füllen und dem Publikum das gestern und heute Geschehene wie frische Semmeln zum Frühstück auf den Tisch zu legen, den Stil vielfach doch recht hastig und schluderig. Billig Denkende werden dem Journalisten daraus keinen ernstlichen Vorwurf machen. Allein die üble Wirkung ist da; und wenn das Gerichtsdeutsch und das Kaufmannsdeutsch und das schwerfällige Gelehrtendeutsch vielleicht nach einer andern Richtung hin, aber immer doch mit dem Zeitungsdeutsch zusammen am deutschen Stil und an deutscher Sprachkunst sich versündigen, so werden wir uns nicht wundern können, wenn gelegentlich über den Verderb von Stil und Sprache durch die Zeitung geklagt wird, sondern eher darüber, daß die bösen Beispiele die guten Sitten nicht noch weit mehr verderben.

Unsere ganze Literatur.

Neben der Tagespresse, von der hier die Rede war, stehen natürlich zu gleichen Rechten auch Wochenschrift und Zeitschrift, Flugblatt und Flugschrift, und steht in gewissem Sinn unsere ganze Literatur, soweit sie keine ausgesprochen fachliche ist. Zur Zeit Schillers gab es noch keine Presse, jedenfalls keine politische und keine freie, und gab es noch keine Rednerbühne in Volksversammlung oder Parlament, auf der der Politiker und Patriot seine Gedanken aussprechen und mit lauter Stimme in die Welt hineinrufen konnte. Da hat Schiller in Deutschland als erster – etwa den einzigen Lessing ausgenommen – die Schaubühne zum Tribunal und Organ der öffentlichen Meinung gemacht und in den Dienst des öffentlichen Lebens gestellt. Wie politische Anklageschriften und demosthenische Reden hören sich die Räuber oder Kabale und Liebe und Don Carlos an; nicht vagen Tyrannenhaß oder unklare kosmopolitische Ideale hat

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1668. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/539&oldid=- (Version vom 12.12.2020)