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er von der Schaubühne als von seiner Rednerbühne herab gepredigt, sondern seine auf Tatsachen beruhenden Anklagen, seine das Volk zum Höchsten emporreißenden Forderungen hat er von ihr aus mit dem ganzen Pathos und dem ganzen Feuerstrom seiner Beredsamkeit unter die Besucher seiner Stücke geworfen. Und wieder – nur weit schwächer und mit hohlerer Rhetorik, aber doch nicht ohne große Wirkung als Vorbereitung auf die Revolution von 1848, hat das junge Deutschland das Theater tendenziös genommen; und noch einmal haben dann in den achtziger und neunziger Jahren unsere naturalistischen Dramatiker die neuen sozialen und sozialistischen Gedanken auf der Bühne vor den aufhorchenden Zuschauern aussprechen lassen und sie so populär gemacht. Durch die ganz unsoziale Verteuerung unserer Theater ist diese ihre große Mission heute fast gar unterbunden: häufiger Besuch ist nur noch für die oberen Zehntausend möglich, für die Massen aber ist an seine Stelle der Kino getreten mit seinen einstweilen noch tendenzlosen, aber um so geschmackloseren und sensationelleren Vorführungen und seinem skrupellosen Spekulieren auf die schlechtesten Instinkte des Volks. So ist das Theater heute viel einflußloser als vor 120 und vor 60 und noch vor 25 Jahren; und das Schlagwort l’art pour l’art ist nur ein schlechtes Mäntelchen, das man dieser Bedeutungslosigkeit als entschuldigende Hülle umgehängt hat; als ob von schwächlichen Ästheten für schwächliche Ästheten große und starke Kunst gemacht werden und große und starke Wirkungen ausgehen könnten. Auch das kläglich mißlungene Festspiel in Breslau hat gezeigt, wie fern und wie verständnislos unsere Theaterdichter von heute dem Volksempfinden gegenüberstehen und wie die Bedeutung ihrer Stücke für das öffentliche Leben nur noch die negative der Ablehnung und des Protestes gegen die Ablehnung ist, und wie auch das wieder in den Dienst der Parteien herabgezerrt und zu Parteizwecken mißbraucht wird.

Der Roman.

So ist es nicht das Drama und die Bühne, ist auch nicht, wie in den Befreiungskriegen oder in den dreißiger und vierziger Jahren, unsere vielfach nur in inhaltsleerem Wortgeklingel schwelgende Lyrik, sondern der Roman, der heute am ehesten noch Wirkung auf weite Kreise und Schichten ausübt und so zu einem Organ des öffentlichen Lebens wird und werden kann. Patriotische und kriegerische, pazifistische und feminine, soziale und individualistische, freiheitliche und konservative, kirchlich konfessionelle und freigeistige Gedanken und Ideen werden im Roman bald in ausgesprochener Tendenz, bald mehr unbewußt und unwillkürlich niedergelegt, und mancher hat sich hier seine Ideale und seine politischen oder religiösen oder philosophischen Anschauungen geholt. „Ich lese keinen Roman!“ heißt daher vielfach nichts anderes als: ich verzichte darauf, ein wichtiges Stück dessen, was unter uns lebt und wirkt, kennen zu lernen und davon Notiz zu nehmen, oder gar: ich interessiere mich für alle diese Fragen überhaupt nicht. Gerade das, was wir zu Anfang vergeblich gesucht haben, „die Sitte“ unseres Volkes, tritt in diesen Produkten der schönen Literatur, nicht immer vollständig und von ihrer besten Seite, aber gerade in ihrer Unabsichtlichkeit am unverfälschtesten und treuesten zutage. Die geistigen und sozialen Strömungen unseres deutschen Lebens spiegeln sich am Ende doch hier alle wider, und die Kunst besteht nur darin, sie aus ihrer dichterischen Einkleidung nicht nur, sondern auch aus

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1669. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/540&oldid=- (Version vom 12.12.2020)