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dem Stimmengewirr der vielen, die hier zu Worte kommen, herauszulösen und herauszuhören.

Vereinsleben.

Konkreter und tatsächlicher, praktischer und robuster als in seiner Literatur, aber nicht weniger bunt und mannigfaltig pulsiert das Leben unseres Volkes in seinen Vereinen. Einem oder mehreren unter den tausend und abertausend Vereinen, oft sogar mehreren, als uns lieb ist, gehört jeder von uns an. Manche von ihnen sind ja nun rein privater Natur und scheinbar ohne alle Bedeutung für das öffentliche Leben, ein Kegelklub z. B. und überhaupt die meisten der bloß der geselligen Unterhaltung und dem Vergnügen dienenden Vereine; und doch können auch sie als Ausdruck des öffentlichen Lebens angesehen werden, sofern und soweit sich ein Stück der Volkssitte in ihnen abspiegelt, z. B. im Kegelklub die Art, wie sich der Philister und Spießbürger abends mit seinesgleichen zu vergnügen pflegt; und wenn die ganze Geselligkeit eines Volkes oder doch weiter Kreise desselben allzu spießbürgerlich und philisterhaft wird, so wird die Masse solcher Kegelklubs und die Wichtigkeit, die sie sich und ihren Vereinigungen zu Verbänden, zu Bannerweihen und Wettkegeln beilegen, sogar ein betrübendes Zeichen des Niedergangs und des Schwindens allgemeiner höherer Interessen, Ausdruck einer allzu großen Selbstgenügsamkeit und einer bedenklichen nationalen Verengung und geistigen Verödung werden können. Gerade weil wir heute, hinausgerissen in das Weltgetriebe und in den flutenden Strom des Wettbewerbs der Völker um die Güter dieser Erde, von dieser philisterhaften Genügsamkeit und Enge im ganzen erfreulich weit entfernt sind, wähle ich dieses Beispiel, das vielleicht auf unserer Großväter Zeit mehr zutraf, aber für uns und unsere Art doch noch nicht ganz aufgehört hat, bezeichnend zu sein.

Wohl aber läßt sich ein anderes sagen. Der Deutsche ist von Haus aus stark individualistisch. Dem scheint diese Neigung, sich in Vereinen zusammenzutun, zu widersprechen, da in ihnen mehr der Herdentiertrieb als diese individualistische Neigung zur Verwirklichung kommt. Allein der Individualismus schließt den Hang und die Vorliebe für freie gesellige Vereinigung nicht aus. Schleiermacher, der Verfasser der ganz individualistischen Monologen, ist schon zur Zeit, da er sie schrieb, der große Virtuose der Geselligkeit gewesen und hat es nicht für einen Widerspruch gehalten, in ihnen das hohe Lied auf die schöne Gemeinschaft der Freundesliebe anzustimmen; und später vollends, in der Ethik, bildet ihm die freie Geselligkeit den Schlußstein seiner Lehre vom höchsten Gut. Gerade in der Vereinsbildung und ihrer nur allzu üppig ins Kraut schießenden Buntheit und Mannigfaltigkeit zeigt sich vielmehr das Individualistische der Wahlverwandtschaft und der Freiheit beim Eingehen solcher Verbindungen und beim Anschluß an bestehende Gemeinschaften nach eigener Willkühr und Wahl. Die Familie, in die ich hineingeboren wurde, der Staat, der mich und mein Leben von Geburt an umschließt und bis zum Grabe nicht losläßt, auch die Kirche, der ich als unmündiges Kind von meinen Eltern einverleibt wurde, wie sie ihr ohne Freiheit und Wahl von ihren ersten Lebenstagen an angehört haben, das sind mehr oder weniger naturhafte Gebilde menschlichen Zusammenschlusses, denen gegenüber ich nicht

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1670. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/541&oldid=- (Version vom 12.12.2020)