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Konservative je wieder in zwei Parteien zerfallen, ist am Ende noch gerechtfertigt durch die Weite des Begriffs liberal und konservativ, die eine Scheidung dort in Nationalliberale und fortschrittliche Volkspartei, hier in Deutschkonservative und Freikonservative natürlich erscheinen läßt. Dagegen macht es beim Zentrum der autoritative Sinn des Katholiken, bei der Sozialdemokratie die Kampfstellung begreiflich, daß dort der Gegensatz eines demokratischen und eines aristokratischen Flügels und der Unterschied der freieren Kölner und der strengeren Berliner Richtung, hier der Gegensatz der Radikalen und der Revisionisten zu einer Spaltung bis jetzt noch nicht geführt hat. Weitere politische Parteibildungen dagegen sind, von zu engen und einseitigen Gesichtspunkten aus, weder berechtigt noch fruchtbar und wünschenswert.

Das Zentrum zeigt durch sein Bestehen, daß neben politischen auch religiöse Differenzen und Richtungsunterschiede unser öffentliches Leben beeinflussen und bestimmen. Daß auch der Katholizismus Gegensätze in sich birgt, habe ich eben angedeutet; sie treten aber außer in der Zeitungsfehde zwischen den Kölnern und den Berlinern mehr nur am Schicksal einzelner in die Erscheinung; nach außen hin steht er auf seinen Katholikentagen immer wieder als eine geschlossene und in seiner Geschlossenheit imposante Macht vor uns, und ebenso hat er im Zentrum seine politische Seite und seinen Machtwillen durchaus einheitlich verkörpert. Auf katholischer Seite ist die Religion am wenigsten Privatsache, hier ist die Kirche eine Macht und die Macht. Anders im Protestantismus. Zwar hat der Unterschied von Reformierten und Lutheranern aufgehört, eine Rolle zu spielen, die Union hat sich überall tatsächlich und fast überall auch rechtlich durchgesetzt. Aber über den Begriff der Kirche und ihr Verhalten zum Staat und über das Dogma und seine Geltung und Bindung für die Geistlichen vor allem sind hier die Anschauungen weit auseinandergegangen, und wenn deswegen von einer kirchlichen Rechten und Linken und von einer oder gar von zwei Mittelparteien gesprochen wird, so sieht man, wie man lediglich die politischen Parteibezeichnungen auf das kirchlich-religiöse Leben übertragen hat. Die Erklärung des sozialdemokratischen Programms, daß Religion Privatsache sei, wird von den Tatsachen einfach ad absurdum geführt; und auch die Trennung von Kirche und Staat würde bei uns in Deutschland gar nichts an der Tatsache ändern, daß das Religiöse und Kirchliche nicht bloß den Privatmenschen angeht, sondern unser ganzes öffentliches Leben aufs tiefste bewegt und beeinflußt. Es liegt hier ein Mißverständnis, die Vermischung zweier Begriffsbestimmungen des Religiösen vor. Religiosität als Frömmigkeit ist natürlich ganz nur Sache des einzelnen, und deshalb ist oder sollte doch wenigstens seine bürgerliche Stellung völlig unabhängig sein von seiner Religion und Konfession und von seiner persönlichen Stellung zur Kirche, ob er ihr angehören will oder nicht, sich kirchlich betätigen will oder nicht. Dagegen ist die Religion als geschichtliche und geschichtlich organisierte und sich fortpflanzende Einrichtung eine soziale und gesellschaftliche Macht, wie es sich in der Kirchenbildung, dieser größten und umfassendsten Vereinsbildung der Menschheitsgeschichte, zeigt, sofern sie sogar die Schranken des Staates, der Nation, der Rasse überspringt und bei allen großen Religionen den Trieb zu einer gewissen Universalität und Weltherrschaft betätigt. So haben wir auch hier wieder eine Synthese von Individualismus und Sozialismus. Die Religion ist etwas Privates, die Kirche etwas Soziales

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1673. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/544&oldid=- (Version vom 12.12.2020)