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und Öffentliches. Deshalb ist die Trennung von Kirche und Staat der Idee nach wohl möglich und vielfach in der Geschichte schon dagewesen: die Schwierigkeiten, die in dem Ineinandergreifen der beiden Mächte liegen und beide bedrängen, würden aber bei uns durch sie schwerlich behoben oder es würden an die Stelle der vorhandenen nur andere neue Probleme treten, die kaum weniger leicht zu lösen wären; ich nenne nur das eine, die Frage: Landeskirchentum oder Einzelgemeinden.

Neben diesen beiden ist dann das Soziale ein drittes Prinzip, das sich in der Sozialdemokratie mit dem politischen, bei den Christlichsozialen und in vielen Vereinen zur Lösung sozialer und charitativer Aufgaben mit dem religiösen verbindet, aber in den Gewerkschaften, den Angestelltenorganisationen und den Arbeitgeber- und Unternehmerverbänden, in interkonfessionellen Armenvereinen, Jünglings- und Jungfrauenvereinen natürlich auch unvermischt und selbständig auftritt. Dazu kommen die Standesvereinigungen, die die Vertretung einzelner Berufsstände nach außen, die Wahrung und Förderung ihrer Interessen und ihre Hebung nach innen auf ihre Fahnen schreiben und z. B. im Bund der Landwirte oder im Deutschen Lehrerverein große und machtvolle Organisationen geschaffen haben.

Turner-, Sänger- und Schützenvereine.

Bis 1848 waren die deutschen Turner- und Sänger- und Schützenvereine – man möchte fast sagen: die populärsten Träger des deutschen Einheitsgedankens, und ihre großen Feste, das Frankfurter Schützenfest von 1862, das Leipziger Turnfest von 1863, hielten ihn unter den Volksgenossen vor allem lebendig. Hier fanden sich deutsche Landsleute aus Nord und Süd, aus Ost und West zusammen, lernten sich kennen und trotz der Verschiedenheit der Dialekte über die engen Landesgrenzen hinweg verstehen. Das ist ja heute nicht mehr in dem Maße notwendig wie damals, die deutschen Stämme sind flüssiger geworden, die Leichtigkeit des Verkehrs und des Reisens führt jährlich ganze Scharen vom Norden in die Alpen oder vom Süden an das Meer; die Offiziere, die Zollbeamten, die Reichstagsabgeordneten – sie alle kommen, wohin sie versetzt werden oder wohin sie eine Agitationsreise führt, als Deutsche zu Deutschen; und verwundert sehen wir auf, wenn uns ein Berliner in alter vormärzlicher Manier mit der Frage angeht: „Sie sind gewiß Süddeutscher: man hört es Ihnen an der Sprache an!“ als ob dieser Unterschied heute noch etwas zu bedeuten hätte und dieser Umstand noch der Erwähnung wert wäre. Immerhin läßt das Turnfest in Leipzig im erinnerungsreichen Jahre 1913 die patriotischen Herzen auch jetzt noch höher schlagen und gibt Gelegenheit zur Aussprache und zur Bekräftigung dieser Gefühle; und ebenso dient der Wettstreit deutscher Gesangvereine vor dem Kaiser nicht nur der Pflege und Hebung des Volksgesangs, sondern es sind zugleich auch Verbrüderungsfeste, die dem nationalen Empfinden zugute kommen. Umgekehrt könnte man sagen, das Vereinsleben pflege auch wieder das partikularistische Stammesgefühl, wenn man sieht, wie in jeder großen Stadt, in der Deutsche aus allen Ecken und Enden des großen deutschen Vaterlands zusammenfließen, sich Bayern und Schwaben, Thüringer und Mecklenburger, Rheinländer und Sachsen je als solche in landsmannschaftlichen Vereinen und Klubs zusammentun und unter den

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1674. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/545&oldid=- (Version vom 12.12.2020)