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oberen Ständen, wo die Frau vom öffentlichen Leben und von der Männer Beruf und Bildung ausgeschlossen war, die Kluft zwischen Mann und Frau sich unnatürlich und ungesund erweitert hatte. Umgekehrt war in den Kreisen der landwirtschaftlichen und der Industriearbeiter der Unterschied zu klein geworden, hier arbeitet die Frau auf denselben Gebieten und dasselbe wie der Mann, und dabei ist sie ihren spezifisch weiblichen Aufgaben im Haus und in der Familie entzogen und entfremdet worden. So hat die moderne Frauenbewegung wie alles Neuzeitliche zwei sich scheinbar entgegenstehende Ursprungsquellen und Richtungen – eine individualistische und eine soziale. Dort handelt es sich darum, den Unterschied, der zu groß geworden ist, zu verkleinern, hier ihn wieder mehr zu akzentuieren und die spezifische Eigenart der Frau wieder mehr zu ihrem Recht kommen zu lassen. Das erstere liegt vor allem im Interesse der Frau als einer Persönlichkeit und soll ein Gewinn sein für sie als Kameradin ihres Mannes und als Erzieherin ihrer Kinder. Bei der arbeitenden Frau liegt es mindestens ebensosehr wie in ihrem eigenen, auch im Interesse von Gesellschaft und Staat, daß sie der Familie zurückgegeben wird und als Mutter und Hausfrau ihre Pflichten wieder besser erfüllen kann.

Hier ist daher die Frauenfrage wesentlich eines der vielen Teilprobleme der großen sozialen Frage im ganzen. Indem im Industriestaat die Frau immer mehr zur Arbeiterin wird und außer dem Haus Arbeit suchen muß und findet, treten für sie dieselben sozialen Nöte, Bedürfnisse, Forderungen und Schutzmittel auf wie für den arbeitenden Mann; und da sie daneben doch immer auch Hausfrau und Mutter bleibt und bleiben soll, so kompliziert sich hier die soziale Frage noch einmal in besonders schwieriger Fassung und Form: es ist das Problem des Schutzes der Lohnarbeiterin gegen übermäßige und sozialschädliche Ausbeutung ihrer Arbeitskraft und speziell die Mutterschutzfrage, mit der sich die sozialpolitische Debatte und die staatliche Gesetzgebung wie in allen Ländern so auch bei uns theoretisch und praktisch vielfach beschäftigt.

Aber wie in Deutschland unter den freiheitlichen Forderungen des Volkes die Preßfreiheit historisch vorantrat, so in der Frauenbewegung die Forderung einer sei es nun mit den Männern gleichen oder überhaupt nur einer höheren Bildung der Frau. Sie hatte um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert Schleiermacher als Romantiker in seinem „Katechismus der Vernunft für edle Frauen“ diesen als zehntes Gebot mit auf den Weg gegeben: „Laß dich gelüsten nach der Männer Bildung, Kunst, Wissenschaft und Ehre“. Schon damals war es eine individualistische Welle, wie ja die Romantik überhaupt individualistisch war; und diese wuchs nun im Zeitalter Nietzsches zum Strom heran, der gefestigte Dämme zerriß und alte Tafeln zerbrach: die Frauen wollten sich geistig emanzipieren, sich frei und unabhängig machen, wollten mit einem Wort Persönlichkeiten werden. Das ist ein durchaus berechtigtes Streben, es fragt sich nur, wie ihm Genüge getan werden kann und was aus so gebildeten Frauen werden soll; denn angesichts der Überzahl der Frauen spielen Erwerbs- und Berufssorgen doch auch hier eine Rolle.

Zunächst kam der Sturm auf die Universitäten, die Forderung, der Frau das Studium auf diesen höchsten Bildungsanstalten zugänglich zu machen. Damit hatte man

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1681. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/552&oldid=- (Version vom 12.12.2020)