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Verständnis wir es erziehen wollen. Wenn über Fragen der Kunst öffentliche Streitigkeiten ausbrechen – über die Aufstellung eines Brunnens mit nackten Figuren oder über die sogenannte lex Heinze im deutschen Reichstag –, so zeigt sich, wie hoch hinauf die künstlerische Unbildung und die ästhetische Hilflosigkeit reicht und wie kleinlich und ängstlich die Menschen der Kunst gegenüber sind – gewiß nicht aus Bosheit, sondern aus Mangel an künstlerischem Sinn und an Erziehung zur reinen und freien Auffassung von Kunstwerken. Deshalb fordert man „Volkskunst“ und fordert in Schriften und auf Kunsterziehungstagen die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend; und Männer wie Lichtwark in Hamburg machen es uns vor, wie wir es dabei anzufangen haben. Die Aufgabe ist klar: das Volk so zu erziehen, daß es das Schöne als Schönes sieht und nicht überall nur Sinnenkitzel sucht und findet, es zu reinerem und feinerem Genießen emporzubilden und auf diese Weise allerlei böse Geister, vor allem den des Alkohols in unserem Volksleben bannen zu helfen. Hier kann man im richtigen Sinn sexuelle Aufklärung und sexuellen Anschauungsunterricht treiben, indem man die Kinder, noch ehe der Geschlechtstrieb erwacht, in Galerien oder sonst auf Bildern unbefangen nackte schöne Menschenkörper sehen läßt und sie so zum unsinnlichen Betrachten derselben und zu unstofflichem und interesselosem Wohlgefallen daran erzieht. Es ist das wirklich eine Schicksals- und Zukunftsfrage für unser von den Grazien nicht allzu reich mit Schönheitssinn ausgestattetes deutsches Volk und seine kulturelle Entwicklung. Auch unserem Kunstgewerbe werden diese Kunsterziehungsbestrebungen zugut kommen und uns damit für den Wettbewerb mit anderen Nationen, wie er auf Weltausstellungen in die Erscheinung tritt, besser ausrüsten.

Allein die Frage ist auf der andern Seite doch nicht abzuweisen, ob wir mit dem Strom von intellektueller Aufklärung und von künstlerischer Erziehung, den wir in der Volksbildungsarbeit immer reicher und voller sich über unser Volk in Stadt und Land ausgießen, nicht ein anderes Übel, das der Halbbildung fördern und hervorrufen. Ich würde diesen Einwand für erheblicher halten, wenn ich nicht die Gegenfrage parat hätte: wer ist denn überhaupt ganz gebildet? und wenn ich in der Bildung etwas Fertiges und Abgegrenztes und nicht vielmehr vor allem die völlige Aufgeschlossenheit des Sinnes für alle neuen Eindrücke, die Aufnahmefähigkeit für alles Wahre und Schöne und Große und die absolute Duldsamkeit auch für andere abweichende Anschauungen und Bildungswege sähe. Es gibt keine abgeschlossene Bildung und keinen alleinseligmachenden Bildungsweg. Deswegen mußte der eine Zeitlang auch die Öffentlichkeit beschäftigende Streit zwischen „Humanisten“ und „Realisten“ mit der Anerkennung der Gleichwertigkeit beider Richtungen endigen, die in der Gleichstellung der Gymnasien und der Oberrealschulen ihren Ausdruck gefunden hat. Daß darum doch für gewisse Berufe und Studien der eine Weg vor dem andern den Vorzug verdient, bleibt davon unberührt und darf in der Praxis nicht vergessen werden; wenn nur nicht Gründe einer falschen Vornehmheit die Wahl des Weges bestimmen, kann man das Finden des Richtigen getrost der Sitte und dem gesunden Menschenverstand überlassen.

Individualismus und Sozialismus.

Ein anderer Einwurf gegen die Volksbildungsarbeit dringt tiefer. Wonach haben

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1689. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/560&oldid=- (Version vom 12.12.2020)