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wir das Bildungsniveau eines Volkes zu werten, haben wir gefragt; nach dem Stand der allgemeinen Volksbildung, die immer auf Durchschnitt und Mittelmaß, um nicht zu sagen: Mittelmäßigkeit berechnet ist und darum keine allzu hohe sein kann und sein darf, oder nach der Bildungshöhe der gebildetsten, der intellektuell und moralisch, ästhetisch und religiös höchststehenden einzelnen? Es ist das alte Problem, das uns immer wieder entgegentritt: Einzelne und Individuen oder Massen und Volk im ganzen? Individualismus oder Sozialismus? das ist die Frage auch hier. Aber gerade hier zeigt sich uns auch die einzig mögliche Lösung. Beides, ist natürlich die Antwort. Nämlich so, daß die höchstgebildeten Individuen zunächst einmal an sich selber denken und für sich selber sorgen. Daß der Künstler, der Forscher immer ein Einsamer und ein auf der Menschheit Höhen wandelnder Vornehmer ist, das ist die aristokratische Einrichtung aller Kultur. Aber wenn sich der einzelne so emporgebildet hat zur Höhe, dann tritt nun auch die Pflicht an ihn heran, an andere, an das Volk und an sein Volk zu denken. Genie ist schenkende Tugend, sagt Nietzsche; dieses Wort drückt aus, was wir meinen. Jeder, der sich bildet, bildet sich nicht nur für sich, sondern auch für andere. Der Schriftsteller, der Künstler, der Dichter, der Gelehrte, der Erfinder – sie alle denken und haben zu denken an die Sache, in deren Dienst sie stehen und die immer eine überindividuelle ist. Diese Sache aber, heiße sie nun Wissenschaft oder Kunst oder wie sonst immer – ist nicht um ihrer selbst willen in der Welt: l’art pour l’art ist ein ganz törichtes Wort. Wie der Sabbat um des Menschen, nicht der Mensch um des Sabbats willen da ist, so sind auch alle diese überindividuellen Kulturgüter um des Menschen, in erster Linie um eines bestimmten Volkes, im weiteren um der ganzen Menschheit willen und für dieses Volk und für die Menschheit da. Der große Erfinder weiß das und gibt es zu. Der Künstler wird es zunächst nicht anerkennen wollen: er schafft, wie sein Daimonion ihn treibt, und denkt dabei um so weniger an das Volk, je genialer und origineller sein Werk zu werden verspricht; er fühlt sich als Einsamer, sein Leid und Lied ertönt der unbekannten Menge, ihr Beifall selbst macht seinem Herzen bang; gerade das Tiefste und Eigenartigste daran kann sie ja doch nicht verstehen. Und trotzdem steht auch bei dem Einsamsten und Stolzesten im Hintergrund die Hoffnung, daß er durch sein Werk die anderen zum Verstehen und zum Mitgehen erziehen und in seine Bahnen zwingen werde.

Er will und soll aber auch ausdrücklich im Sinn des Schillerschen Wortes auf das Volk wirken:

Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben: bewahret sie!
Sie sinkt mit euch, mit euch wird sie sich heben.

So ist er ein Diener des öffentlichen Lebens oder, wenn er lieber will, ein Priester und Hohepriester desselben. Dazu ist er aber auch um deswillen verpflichtet, weil er auch seinerseits von diesem öffentlichen Leben beeinflußt ist als ein Sohn seines Volkes und seiner Zeit. Daß in der Ära Bismarck die Kunst realistisch wurde und unter Kaiser Wilhelm II. eine Neuromantik aufkam, und daß unsere Baukunst in einer mehr wissenschaftlich als künstlerisch hoch entwickelten, mehr suchenden als besitzsicheren Periode eklektisch nach einem Stil sucht, das sind alles Beweise für die tausend und abertausend unterirdischen Zusammenhänge zwischen Kunst und öffentlichem Leben. Und will man

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1690. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/561&oldid=- (Version vom 12.12.2020)