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und mehr den Sieg davongetragen über die „Ideen“ Humboldts. Schulen und Universitäten, Wissenschaft und Bildung sind verstaatlicht, und vielfach ist das Problem gerade das, wie sie sich dem Staat gegenüber in ihrer Selbständigkeit behaupten oder wenigstens einen Rest von Selbständigkeit sich erhalten können. Der Staatssozialismus beherrscht in Theorie und Praxis das wirtschaftliche Leben, wie umgekehrt dieses den Staat und seine Gesetzgebung, die innere und die äußere Politik beherrscht. Der Verkehr, der früher privat war, ist vom Staat monopolisiert und in Post und Eisenbahnen, in Telegraph und Telephon zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden; und auch das, was scheinbar privat geblieben ist, Handel und Industrie und Bankwesen, wird dadurch zu einer öffentlichen Angelegenheit, daß sich große Verbände und Interessengemeinschaften bilden, die schon durch das Riesige und Großartige dieser Zusammenballungen die öffentliche Aufmerksamkeit erzwingen; und weil so viele, aktiv oder leidend, an ihnen partizipieren, ist an ihrem Prosperieren oder an ihrem Zusammenbrechen die Gesamtheit irgendwie mitinteressiert; als Staat im Staat stehen sie dem wirklichen Staat selbst wieder als Macht gegenüber und suchen auf seine Maßregeln und seine Gesetzgebung Einfluß zu gewinnen, ihn geradezu von sich abhängig zu machen. Unsere auf immer zahlreichere privatim Beschäftigte und Angestellte sich ausdehnende Versicherungsgesetzgebung, die schließlich jeden zum pensionsberechtigten Beamten macht, zeigt uns dabei noch einmal die beiden Seiten einer solchen Erweiterung staatlichen Eingreifens und staatlicher Fürsorge: indem sie den einzelnen in Krankheitsfällen und im Alter vor der äußersten Not schützt, macht sie unser aller Leben sicherer und bequemer, nimmt der Hilfe das Willkürliche und Zufällige und erspart viel unnötiges Sorgen und Besinnen; aber auf der anderen Seite führt sie auch die Gefahr herauf, daß Wagemut und eigene Initiative zu früh erlahmen und über der Staatshilfe die Selbsthilfe versäumt wird; das sittlich Kräftigende und Stählende in dem „Mensch, hilf dir selber“ geht darüber verloren. Oder: ein Streik ist an und für sich lediglich Privatsache; trotzdem kann er in Zustimmung oder Verurteilung die öffentliche Meinung aufs heftigste erregen, mit ihrer Hilfe siegen oder weil sie sich ihm versagt, unterliegen und schließlich, nicht erst durch den Terrorismus gegen Arbeitswillige oder in der Form des Generalstreiks, zu einer öffentlichen Gefahr werden und das Einschreiten der öffentlichen Gewalten nötig machen. Das eben ist das Eigentümliche an unserem modernen Leben, daß, was eben noch Privatsache gewesen ist, im nächsten Augenblick schon zu einer öffentlichen Angelegenheit wird; das Umgekehrte, das Freilassen und Freigeben eines Staatlichen an die private Initiative ist weit seltener. Darum gibt es kaum etwas, das man heute nicht zum öffentlichen Leben rechnen könnte und das nicht eine dem öffentlichen Leben zugewandte Seite hätte.

So hat dieser Abschnitt in der Weite seiner Aufgaben, die in engem Rahmen nicht erschöpft werden können, vieles von dem noch einmal berühren müssen, was in den einzelnen Kapiteln dieses Werkes zerstreut je an seinem Ort ausführlicher dargestellt worden ist. Das öffentliche Leben ist heute der große Leviathan, wie Hobbes den Staat genannt hat, das Übergreifende und Allgewaltige, das alles verschlingt und demgegenüber sich der einzelne nur mühsam in seiner Existenz und seinem Recht behauptet. Wer sich von ihm nicht völlig verschlingen und um Schwungkraft, Initiative und Selbständigkeit

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1692. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/563&oldid=- (Version vom 12.12.2020)