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den Universitäten ist geradezu grotesk, für die Turksprachen gibt es überhaupt keine Universitätsprofessur und die Sprache Irans schiebt der Semitist gern dem Indogermanisten zu und der Indogermanist dem Semitisten. Um so bewundernswerter ist die Leistung des iranischen Grundrisses nach der sprach- wie literargeschichtlichen Seite. Die Pflege des Türkischen − für das Reich eine so einzigartige Aufgabe! − ist in Deutschland dem Weitblick einiger weniger Semitisten zu danken. Eine „Türkische Bibliothek“ erschließt ein zukunftsreiches Neuland.

Gerade sie weist uns aber auch auf die Realien, und ihre Pflege ist ja ein Charakteristikum der letzten 25 Jahre. Schon die Quellenerschließung steht unter diesem Zeichen. Der Versuch eines arabischen Catalogus Catalogorum wird kühn gewagt, ein trotz aller Mängel nicht wieder fortzudenkendes Buch. Auch die äthiopische Literatur wird von einem Deutschen erstmalig zusammengefaßt. Die Hauptergebnisse, die wirklichen Fortschritte der orientalischen Realienforschung liegen auf historischem, religionsgeschichtlichem und archäologischem Gebiet. Das weite Feld des christlichen Orients muß hier, als zur Kirchen- oder Kunstgeschichte gehörig, unerörtert bleiben, nur der deutschen Aksumexpedition sei hier dankbar gedacht, die das Problem der Anfänge des abessinischen Christentums definitiv gelöst und überhaupt das Standardwerk über das aksumitische Reich geschaffen hat. Neben den christlichen Kulturkreis, der um Beachtung nicht zu sorgen brauchte, tritt immer entschiedener der islamische.

Durch Urwaldgürtel kirchlicher und philologischer Geschichtskonstruktionen haben uns hier kühne Forscher, die alle noch leben und deshalb ungenannt bleiben, einen Weg zu historischer Erkenntnis gebahnt. Das arabische Reich erstand. Die ganze islamische Bewegung, das Leben Muhammeds, mußten neu gewertet werden. Die religiöse, sich historisch gebende Überlieferung wurde als Tendenzliteratur erwiesen. Die Erkenntnis von der Idealität des islamischen Rechtes trat an die Stelle der alten Auffassung von seiner praktischen Wirklichkeit. Eine wirkliche Geschichte des Islam als Religionsform wurde geschaffen. Religiöse Forderung und Volkssitte wurden zu den Grundpfeilern eines Verständnisses des modernen Islam. Die historische Kontinuität, das Nachleben der ausgehenden Antike im Islam, wurde außer Frage gestellt. Die Verbindungslinien zwischen der Gegenwart und der klassischen Zeit des Islam wurden gezogen. Die Formen der Gegenwart wurden wissenschaftlich aufgenommen. Mekka wurde eröffnet, und wenn die Forscher, die hier als Pfadfinder auftraten, auch nicht immer Deutsche waren, so standen sie doch deutscher Wissenschaft nahe, so haben sie doch zum Teil deutsch geschrieben und jedenfalls in Deutschland die größte Wirkung erzielt. Auch archäologisch wurde der Islam erst jetzt richtig in Angriff genommen. Die islamischen Denkmäler Persiens wurden ebenso sorgfältig aufgenommen wie Überreste der Sassanidenzeit. Das Problem der Genesis der islamischen Kunst, ihre Beziehungen zur christlichen, zur altorientalischen, zur klassisch, antiken, stehen noch zur Debatte. In solider Detailarbeit hat Deutschland soeben die Ruinen der Kalifenresidenz Samarra der Wissenschaft gewonnen. Die Fassade von Nischatta steht in Berlin, und verwandte Schlösser der ältesten Periode hat ein österreichischer Reisender entdeckt. Soweit der Islam reicht, überall ist seine wissenschaftliche Erforschung im Werk. Hierbei sind begreiflicherweise die dem Islam

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/58&oldid=- (Version vom 15.9.2022)