Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 3.pdf/61

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

in einem Stūpa einen Reliquienbehälter der Śākyas, der Verwandten des Buddha, der einen Teil seiner Überreste enthielt, und 1909 gelang es, auf Grund literarisch-archäologischer Feststellungen, bei Peshawar die berühmte Pagode nebst Inhalt aufzufinden, die einst König Kaniska über einem Teile der angeblichen Reliquien Buddhas erbaut hatte, und die von dem chinesischen Pilger Hüan Tsang im 7. Jahrhundert beschrieben ist. Auch die Sprach- und Literaturforschung, die Völkerkunde und Volkskunde, die Kunstgeschichte und Architektur sind durch die archäologische Durchsuchung des Landes auf ihre Rechnung gekommen: Hunderte von Sprachen und Dialekten sind und werden in Indien festgestellt; zahlreiche für die Kulturgeschichte bedeutungsvolle Sanskritwerke, die bisher unbekannt waren, finden sich an; die klarer werdende indische Geschichte läßt die Umrisse des gewaltigen Völkergemisches erkennen, und die Aufdeckung der Märchen- und Fabelliteratur, die ihre Spuren auch dem europäischen Volkstum sichtbar eingegraben hat, bringt die alte brahmanische Kultur gegenüber der buddhistischen wieder zu Ehren; die indische Kunstgeschichte ist eine jetzt erst entstehende Wissenschaft, und wir fangen wieder an, einzusehen, daß die indische Kunst Jahrhunderte früher da war als die neu entdeckte graeko-indische Gandhara-Kunst, die in der ersten Begeisterung wohl etwas überschätzt wurde. So hat sich auch die große Enzyklopädie, der „Grundriß der indo-arischen Philologie und Altertumskunde“ bereits bis zu ihrem 18. Bande erweitert, und von dem Riesenwerke des Mahābhārata, das die Kenntnis des indischen Altertums wie kaum ein anderes Literaturdenkmal erschließt, ist die kritische Ausgabe der vereinigten Akademien um ein gutes Stück gefördert. Auch das Studium des Buddhismus ist durch die Anregungen der archäologischen Forschung sachgemäßer geworden. Man hatte sich bereits an den Gedanken gewöhnt, daß im Kanon der südlichen Buddhisten allein die wirkliche Religion Śākyamunis zu suchen sei, und das im Jahre 1893/94 in Siam neu herausgegebene Pali-Tripitaka galt in Sprache und Inhalt als einzige Norm. Demgegenüber blieben das Mahāyāna-System des Nordens, das doch den Buddhismus erst zu einer Weltreligion gemacht hat, und seine gewaltige Literatur vernachlässigt. Hier hat das Wachsen der geschichtlichen Kenntnis gründlichen Wandel geschaffen. Das Eindringen in die Schriften der nördlichen Buddhisten, vor allem aber die großartigen Entdeckungen in Turkistan, über die noch mehr zu sagen sein wird, haben eine ungeahnte Welt erschlossen. Sie haben gezeigt, daß das Pali keineswegs „die heilige Sprache“ der Buddhisten war, sondern daß ein nördlicher Kanon, und zwar im Sanskrit wie in Pakrit-Dialekten geschrieben, vorhanden gewesen ist, der sich inhaltlich mit dem südlichen deckte und so die Zuverlässigkeit der Überlieferung verbürgt. Allem Anschein nach gehen beide auf eine gemeinsame, noch nicht bekannte Quelle zurück.

Aber die immer suchende Wissenschaft fand auch, daß sie nicht innerhalb der Grenzen des eigentlichen Indien verharren dürfe, wenn sie den ganzen Wirkungsbereich der indischen Kultur ermessen wollte. Wie die von den Franzosen in ihrem Schutzgebiet Kambodscha aufgefundenen Tempelruinen und die bis in das dritte Jahrhundert zurückgehenden, teils in der Khmer-Sprache, teils in Sanskrit verfaßten Schriften dartun, daß hier, in Hinterindien, einst eine hochentwickelte, brahmanische, später buddhistische

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/61&oldid=- (Version vom 15.9.2022)