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Neues in Religion, Kunst, Literatur und Verwaltung. Überwältigend ist der Ausblick, der sich bietet. Die Berichte chinesischer Geschichtschreiber über helläugige und blondhaarige Rassen in Mittelasien sind keine Märchen, wie man geglaubt hatte, sondern die aufgefundenen Freskobilder beweisen ihre Richtigkeit. Indogermanen des Westens hatten, wie die entdeckten Sprachreste zeigen, in vorchristlicher Zeit in den Gebieten des heutigen China gesessen, und persisch-hellenistischer Kultureinfluß war in Gegenden gedrungen, wo man ihn nie vermutet hatte. Von der verloren geglaubten Literatur der Manichäer gab der Sand der Gobi originale Handschriften, Meisterwerke der Kalligraphie, wieder heraus, und heute wissen wir, daß nicht bloß syrisches Nestorianertum, sondern auch babylonischer Manichäismus und persischer Mazdaeismus im 7. und 9. Jahrhundert ihre Heiligtümer und ihre Gemeinden bis in die Hauptstadt des chinesischen Reiches und darüber hinaus hatten. Die verblüffenden Ähnlichkeiten zwischen dem Buddhismus und den Religionen des Westens sind weder ein Spiel des Zufalls, noch ein „Blendwerk des Teufels“, sondern sie entstammen der gegenseitigen Berührung und Befruchtung, die in dem Völkergewirr der mittelasiatischen Oasenstaaten erfolgte. Es ist ein bisher verborgenes und nun um so gewaltiger wirkendes Kapitel der Weltgeschichte, von dem die Ausgrabungen in Turkistan den Schleier weggezogen haben.

Nach dem Schlüssel des Verständnisses für den geschichtlichen Zusammenhang hätte freilich die abendländische Wissenschaft lange suchen mögen, wenn ihr nicht die ausführlichen Angaben der chinesischen Literatur zur Verfügung gestanden hätten. Vielleicht ist dieser Umstand nicht ohne Bedeutung gewesen für die Tatsache, daß auch in Deutschland die akademische Wissenschaft auf die bis dahin arg vernachlässigte Sinologie aufmerksam geworden ist. Die Vorgänge in Ostasien und die aktive Politik, die Deutschland durch seine neue Weltstellung dort aufgenötigt wurde, hatten zwar China weit mehr als bisher in das Licht des allgemeinen Interesses gerückt, aber die wissenschaftliche Sinologie, d. h. die systematische Erforschung der ostasiatischen, in ihrem Wesen chinesischen Kulturwelt hatte zunächst wenig Nutzen davon, der Dilettantismus beherrschte das Feld. Erst während der letzten Jahre hat hier der Wandel begonnen, indem wenigstens einige Lehrstühle für Sinologie neu geschaffen wurden. Unabsehbar sind die Arbeitsgebiete, die sich hier eröffnen, und zwar bei der Mannigfaltigkeit und langen Dauer des chinesischen Kulturlebens für alle Betätigungen des menschlichen Geistes; auf keinem sind die Forschungen einem Abschluß nahe, von den meisten sind erst kleine Ausschnitte berührt, viele noch unbetreten. Die Königliche Bibliothek hat sich das Verdienst erworben, an literarischem Material aus Ostasien herangeschafft zu haben, was für sie erreichbar war; Hamburg folgt ihr jetzt. Eine Reihe von vortrefflichen Arbeiten auf dem Gebiete der Geschichte, der Religionswissenschaft, der Philosophie, Literatur und Kunst haben bereits das Aufblühen der jungen, nach bewährten Methoden betriebenen Wissenschaft in Deutschland angezeigt, voller Hoffnung mag sie der Zukunft entgegensehen. Mehr als die meisten anderen orientalischen Wissenschaften bedarf die Sinologie der engen Berührung mit ihrem fernen Arbeitsfelde, weil ihr in den Ländern Ostasiens die Gegenwart überall hilft, die Vergangenheit zu verstehen, und die Fragen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/63&oldid=- (Version vom 14.9.2022)