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gesteigerte und tiefer schürfende Sammeltätigkeit anzuregen, die der starken Wirkung der Brüder Grimm immerhin verglichen werden kann. In den meisten deutschen Landschaften sind Vereine für Volkskunde entstanden, nicht alle unter so glücklichem Stern und so strenger erster Leitung wie in Weinholds Heimatprovinz Schlesien, manche befangen in den Kinderkrankheiten, die dieser immerhin nicht ungefährliche Boden erzeugt, aber keine ohne eigenes Verdienst, und einzelne wie die für Deutschböhmen und für die Schweiz von einer Arbeitskraft und Produktivität, die uns Hochachtung abnötigt.

Dieser Beschäftigung mit den Erzeugnissen der Phantasie und den Lebensäußerungen des Volkes bei der Arbeit und an festlichen Tagen geht zur Seite eine gesteigerte und wissenschaftlich gehobene Beschäftigung mit den Mundarten. Das Interesse dafür war auch Jacob Grimm keineswegs fremd, und von seinen Mitarbeitern hat sich der Erforscher der Bayrischen Mundarten Joh. Andreas Schmeller unvergänglichen Ruhm erworben. Die Richtung, welche Wilhelm Scherer der Sprachwissenschaft gab und die tiefgreifenden prinzipiellen Erörterungen Hermann Pauls drängten auf das Studium der lebenden Sprache hin, und zwar an ihren lebendig sprudelnden Quellen, in den Volksmundarten. Aber den stärksten Anstoß gab Eduard Sievers, der erkannte, daß die Phonetik nur indirekt, auf dem Umwege über das Studium der Mundarten, für die historische Sprachwissenschaft nutzbringend gemacht werden könne, und so der Anreger der ersten streng wissenschaftlichen Monographie über einen deutschen Dialekt wurde (Winteler, Die Kerenzer Mundart 1877), der dann anfangs zögernd, später in größerer Zahl und zum Teil in dichten Gruppen Beschreibungen deutscher Mundarten gefolgt sind. Wenn dabei anfangs das Alemannische, später das Bayrisch-Österreichische, Thüringische und Obersächsische, neuerdings auch das Schlesische und Niederrheinische stark hervortreten, so macht sich darin der Einfluß einzelner Lehrer deutlich geltend. Durchaus unabhängig von Sievers war nur Georg Wenker (gest. 17. Juli 1911) in Marburg, der aus eigenster Initiative den Sprachatlas des Deutschen Reiches begründete und, bis im Jahre 1888 das preußische Kultusministerium das große nationale Unternehmen übernahm, diesen Atlas jahrelang auf eigenen Schultern getragen hat. Mit den Ergänzungsblättern wird das Riesenwerk nicht viel weniger als 2000 Wortkarten umfassen: damit ist der deutschen Dialektgeographie eine Grundlage geboten, die durch alle vorauszusehenden und erwiesenen Mängel im einzelnen in ihrer Festigkeit als Ganzes unerschüttert bleibt. Es ist Aussicht vorhanden, daß das Werk in einer Auswahl von Karten auch zur Publikation gelangt. Inzwischen ist die Tätigkeit von Wenkers Nachfolger Ferd. Wrede auch darauf gerichtet gewesen, in Einzelpublikationen die historische Bedingtheit von Mundarten zu ermitteln und an Stelle der vagen Vorstellung von alten Stammesgrenzen deutlichere Begriffe zu setzen.

Neben die beschreibende Einzelforschung und die Dialektgeographie stellt sich als drittes die Lexikographie der Mundarten. Durch ein halbes Jahrhundert stand das Bayerische Wörterbuch von J. A. Schmeller auf einsam ragender Höhe. Dann begann, durch ein einzigartiges Zusammenwirken gelehrter und volkstümlicher Kräfte ins Leben gerufen und getragen, das „Schweizerische Idiotikon“ (Bd. I, 1881) es zu überragen, und ihm tritt das „Schwäbische Wörterbuch“ ebenbürtig zur Seite (Bd. I. 1904), das,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/68&oldid=- (Version vom 20.8.2021)