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Erscheinungen auf psychologischem Wege zu erklären, überhaupt in der Sprache das Walten philosophischen Geistes zu erkennen. Und, wenn ich nicht irre, so ist auch hier Gröber Pfadfinder gewesen. Aber zur Erkenntnis sprachlicher Vorgänge ist eine gründliche Kenntnis phonetischer Erscheinungen nicht minder erforderlich. Gar manches, was man früher sich nicht zu erklären wußte, ist durch die experimentelle Phonetik erst klar geworden. Auf einiges hat sie überhaupt zum erstenmal aufmerksam gemacht. Viele dialektische Arbeiten lassen sich ohne ihre Hilfe gar nicht mehr bewerkstelligen.

Wenn wir von der Linguistik zur Philologie im engeren Sinne, zur Erklärung und Interpretation älterer Texte, zur Rekonstruktion des mutmaßlich echten Denkmals, in einem Worte zur Textkritik übergehen, so können wir sagen, daß in unserm Zeitraum die in Gröbers Arbeit über die handschriftliche Gestaltung der Fierabrasdichtung und in Gaston Paris’ Alexisausgabe ausgesprochenen Grundsätze über Textkritik bei uns maßgebend geworden sind. Eine Reihe hervorragender Ausgaben, namentlich altfranzösischer, dann aber auch provenzalischer und italienischer Texte, sind bei uns in Deutschland in den letzten Jahren erschienen. Denken wir vor allem an W. Foersters mustergültige Ausgaben Chrestiens und so vieler anderer mittelalterlicher Franzosen, an die textkritische Arbeit Toblers, Suchiers, Stengels, Appels, Stimmings, Ebelings, Friedwagners, Schultz-Golas, und wir erhalten schon durch die bloße Aufzählung dieser Namen einen Schimmer der in unserm Zeitraum so regen textkritischen Leistung. Wenn man sich die Grundsätze, die bei Herstellung von Ausgaben befolgt wurden, vergegenwärtigt, kann man im großen und ganzen wohl sagen, daß man mit den Jahren immer skeptischer geworden ist und immer mehr zu der kleinmütigen Erkenntnis gelangt ist, daß wir auch bei gewissenhaftester Arbeit und unter den günstigsten Umständen kaum dazu kommen können, das wahrscheinlich Echte, geschweige denn das wirklich Echte zu rekonstruieren. Die Uniformierung der Texte hat man deshalb immer mehr als etwas Gewaltsames empfunden und sie möglichst vermieden. Die Aufnahme von Konjekturen in den Text hat man sich immer seltener gestattet. Fast möchte ich sagen, daß man in dieser Beziehung zu zaghaft geworden ist und der Kombinationstätigkeit zu wenig zutraut. Wer gar nichts wagt, wird auch gar nichts gewinnen. Durch Hypothesen, auch wenn sie nicht immer gleich zum Ziele führen, kommt man doch weiter als durch ängstliches Verzichten von vornherein.

Die Herausgeber altfranzösischer, provenzalischer und italienischer Texte wurden eo ipso dazu geführt, sich auch mit den literarischen Fragen abzugeben, welche ihre Autoren betrafen. Datierung der Texte, Ursprungsfragen, Verhältnis zu anderen Dichtungen wurden eifrig erörtert. Mit den Fragen der Entstehung der altfranzösischen Heldendichtung hat man sich auch bei uns ebenso wie in Frankreich, Italien, Österreich beschäftigt. Im großen und ganzen kann man wohl sagen, daß man bis in die jüngste Zeit im Deutschen Reich konservativer geblieben ist, wie anderswo. Die revolutionären Theorien sind von Österreich und Frankreich gekommen. Becker und Bédier sind die Umstürzler, während man bei uns große Mühe gehabt hat, der althergebrachten Theorie zu entsagen, kraft deren die Chansons de geste unmittelbar nach den Ereignissen entstanden sind und der neuen sich anzuschließen, welche behauptet, daß die Epen weit

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/76&oldid=- (Version vom 20.8.2021)